Tuesday 3 March 2015

KAPITEL 9

Vor den großen Ferien sagte mein Vater, er sei völlig iben, er müsse endlich mal raus.
Er auch, sagte mein Bruder, er müsse auch mal raus.
Am besten, man fahre in den Harz, sagte mein Vater, da könne man preiswert unterkommen, der Reichsverband deutscher Offiziere unterhalte dort eine Pension. - Das Selketal solle ja wundervoll sein, da gebe es sicher allerhandlei zu sehen.
Geld spiele keine Rolle.

Noch nie sei sie weggewesen, sagte meine Mutter, noch nihct ein einziges Mal. Immer nur an die See. Es sei zum Verzweifeln... Hertha zum Beispiel, die sei in England gewesen und Richard in Hongkong. Aber sie: immer nur and die See.
Wenn mal bedenke, daß sie als Hamburgerin noch keinen Fuß auf den Boden Helgolands gesetzt habe, nicht einen einzigen!
Wie sei es bloß möglich!

Mein Vater suchte die Kartentasche raus, die von 14/18 und sein Fernglas. Außerdem ließ er sich einen Hornknefer machen, durch den kuckte er recht von oben herab. Der würde seiner Haut zuträglich sein.
Meine Mutter bekam eine Wandertasche und Schuhe von Salamander.
Und Ulla durfte ihre Zöpfe abschneiden lassen, ein langgehegter Wunsch. Die urden in Seidenpapier gewickelt, wenn später mal das Haar ausgeht.
Ob es im Harz Edelweiß gibt und ob man da kraxeln kann, wollte sie wissen. Sie wolle mal so richtig kraxeln.
Der Zug war voll. "Das kann ja heiter werden", sagte mein Vater, "wir kriegen bestimmt keinen Platz."
In der dritten Klase standen die Leute und in der zweiten war auch nichts mehr frei. Dann müsse man eben in den sauren Apfel beißen und in die erste umsteigen. Wenn das man keine Scherereien gebe! Dürfe man das? Fluchend wurden die Koffer durch den Gang bugsiert. Der große, blaue, aasig schwer.
"Karl, du versündigst dich ja".

In der 1. Klasse lag ein dicker Mann auf den Polstern, der las einen englischen Kriminalroman. "The Pools of Silence". Zu dem gingen wir rein. Lässig nahm er die Beine runter.
"I gitt", flüsterte meine Mutter, "wie so'n dicker jüdischer Spion..."

"Faß nicht Aschebechen an, komm, wir waschen uns gleich mal die Hände." Tante Silbi, wenn die losfahre, nach Schreiberhau, denn nehme sie einen Tag vorher Abführtabletten und anschließend was zum Stopfen, um nur ja nichts aufs Eisenbahnklo zu müssen.

"Watt, Urlaub wistu hebben?" habe der Großvater gesagt, "ick war' verrückt. Ick hew noch nie Urlaub hatt..." Und dabei fahre er doch jedes Jahr nach Oeynhausen.

Wie schnell wir wohl fuhren?
"Immer nur an die See", sagte meine Mutter. Und das Schönste, sie könne heut noch nicht schwimmen. Sie stoße immer mit einem Bein so ab.
Aber die Hochzeitsreise, da sei man doch nach Tegernsee gefahren?
Ja, die Hochzeitsreite, 1920, aber das sei ja auch ein ziemlicher Reinfall gewesen. "Warum schläfst du nicht?" habe ihr holder Gatte gesagt.
"Ach Gott, ich kann nicht..."

"Du mußt die Augen zumachen, mit offnen Augen kann ich auch nicht schlafen."
Und dann habe er weiter geschnarcht. Einen gesünderen Menschen als Vati gäb es ja überhaupt nicht. "Nie krank, schläft wie'n Toter."
(Kuck mal, wie er jetzt die Ohren anlegt... sieht er nicht finienisch aus?)
"Der Kapplan ist a Depp", habe an der Abteiltür gestanden, darüber hätten sie sich noch so amüsiert...
Bayerisch. Das sei'n komisches Volk. Daß das nun auch Deutsche sind...

Meine Schwester ging eben mal durch den Zug.
"Aber faß nicht die Türen an! Jedes Jahr fallen da welche raus."

Nein, die Hochzeitsreise sei ein ziemlicher Reinfall gewesen. In München zum Beispiel, anstatt nun mal aususteigen und sich alles anzusehen... und grade an dem Tage sei ein Blumenumzug gewesen, der nur alle zehn Jahre stattfindet. "Wie isses nun zu fassen." UUnd so gerne hätte sie sich mal die Gemälde angesehen und all das. Wann komme man da mal wieder hin!

Mein Bruder stand auf dem Gang und sah, koste es, was es wolle, aus dem Fenster. Die Berge, wann kommen sie, die Berge?
Seine Tolle flatterte wie eine Fahne, mal nach hinten, mal nach vorn.
"Lehn dich nicht so weit raus!"
"Kinder!" rief meine Mutter unversehens, "Kinder, o seht mal, da sind sie!"
"O du Donnerwetterr!"Robert hatte auf der falschen Seite gestanden.
"Laß man", sagte meine Mutter, "wenn wir da sind, dann siehst du sie die in aller Ruhe an. Die sind bestimmt um die Pension drum rum."

Der jüdische Spion rührte sich nicht, der las schwer atmend in seinem Roman. Den interessierten die Berge nicht.

In Sophienbad troff ein Wasserfall den Fels herunter.
Gut dem Dinge!
Aber es war niemand zum Empfang erschienen.
Links und rechts Dienstmänner, die den wenigen Gästen anderer Pensionen schwarze, mit Messing beschlagene Kofferr aus der Hand nahmen und auf Karren luden.
"Und wir, wir müssen sehn, wie wir fertig werden. Das ist doch unerhört!"
Das war mal wieder typisch.
Hatte man sich nicht korrekt angemeldet?
War der Zug zu früh eingetroffen?
In der Pension wimmle es vermutlich von Generälen. Und Vater war nur Leutnant der Reserve, wenn auch Tr¨ger beider Eisernen Kreuze, des Mecklenburgischen Verdienstkreuzes, des Hamburgischen Hanseatenkreuzes und so weiter.

Und morgen werde es bestimmt regnen.
Das ließe sich dann auch nicht ändern.

Die Pension, das "Heim", wie mein Vater sagte, war in der hier üblichen Bauweise holzverschalt.
Ein Jägerzaun schloß den großen, völlig verwilderten Garten ein.

Mein Bruder erkletterte gleich einen Hang.
Aber da gab es nichts zu sehen, da standen überall Bäume.
Doch halt! Ein alter Schacht?
Pfui Spinne, da hatte einer hineingeschissen.

"Ihr sollt mal sehn", sagte meine Mutter, "die richtigen Stellen entdecken wir erst noch. Das wird noch wunderbar." Am Anfang sei das immer so, da mache man viele Wege umsonst. Aber dann werde es gut. "Wir erkundigen uns, und dann gehn wir nur dahin, wo es schön ist"

Ein mit Restbeständen möbliertes Schlafzimmer bezogen meine Eltern, ein zweites, ebenfalls von äußersten Öonomie zeugendes Doppelzimmer meine Geschwister. Ich hatte eine Couch zu Füßen meiner Eltern.
"Sosst ma sehn", sagte meine Mutter, "da schläft es sich gut. Diese Couchen sind oft ganz konfortabel."

Alles weiß gestrichen, Schleiflack.Vor dem Fenster, braun und hoch, die Rückfront der Pension "Waldfrieden". Mein Vater stellte sein Rasierzeug auf den Waschtisch, Kaiser Borax zum Weichmachen des Wassers und Sparta-Creme.
Das würde seiner Haut guttun.
Er knipste sämtliche Lampen an und ließ die Wasserhähne laufen. "Ring-ring, beide Maschinen volle Kraft voraus!" ("Denen werden wir's zeigen.")

"Ich geh' schon mal eben los", sagte meine Schwester.
"Ja, aber sieh dich vor."

Gegessen urde an der Table d'hôte.Wir hatten einen eigenen Tisch in einer Nische des dunklen Speisesaals. An der langen Tafel saßen ältliche Menschen und ganz oben die Leiterin des Heims, Frau von Schmidt, der Mann bei Langemarck gefallen - blutjung, wie gesagt wurde. - Sie war es, die uns nicht gebührend empfangen hatte, obwohl mein Vater doch mit ihrem Mann Schulter an Schulter gegen die Franzosen gekämpft hatte.
"Entpörend. Wie isses nun zu fassen."

Zwei alte Damen, mit Deckchen auf dem Kopf und Stehkragen, ganz im Schwarz, wurden mit "Exzellenz" angeredet."Die Exzellencen."
Sie trugen schlappende Schuhe.

Ferner fiel ein Oberst auf, ein Mann von Fünfzig, mit breiten Säbelhieben auf der steil aufstrebenden Glatze. ("Perikles mit dem Helm.") Es lag viel Kriegserfahrung im Zwinkern seiner Augen. So sagteer nicht "Arras", wie mein Vater, sondern stets "Arra".
Mein Vater hilt ihm die Tür auf: "Belieben der Herr Oberst?"
"Danke, Herr Kamerad."

Fischauflauf kannten wir nicht. "Schmeckt aber gar nicht schlecht." Und warmen Schokoladenpudding. "Hu, wie ist der wehrsam."
Mein Vater füllte sich nach. "Alles inklusive", ob wir den Film kennten? Mit Pat und Patachon? Nachher müssen sie alles bezahlen und haben keinen Pfennig in der Tasche. "Gott, wie haben wir gelacht."
Mein Vater war der gesündeste Mensch, den man sich denken konnte, der vertrug ja Nägel. "Wie isser bloß gesund", sagte meine Mutter, "nicht tot zu kriegen, ganz entsetzlich."

Butter war in kleinen Formen zu Kleeblatt, Rose und Fisch gedrückt. Sie nachzukommen stieß auf Schwierigkeiten. Da wurde dann von Volkswirtschaft geredet. Knappmannsdörfer & Jennsen. Und der Wurstteller ging nur einma rum. "Junge, benimm dich."
Man schneide das Brot mit dem Messer und winkle die Ellenbogen an.
"Schneiden! Nicht drücken."

An einem zweiten Extra-Tisch, von Sonne beschienen, ein Leutnant mit seiner Frau und zwei Töchtern. Er ruhig, seine Frau schweigsam, die Töchter still. "Fein", sagte meine Mutter, "mit denen kannst du gewiß herrlich spielen."

Der Leutnant war aktiv und kam aus Königsberg. Rote Litzen, also Artillerie. (Kavallerie wäre besser, Marine erheblich schlechter gewesen.)
"Kuck da nicht so rüber."
Statt eines Ordens trug er das Reiterabzeichen in Silber.
Mein Vater knickte den Oberkörper ein, zur Begrüßung, was dieser entsprechend erwiderte.

Nach dem Essen standen sie, Zigarre beschneidend, am Fenster. "Sie sind aus Königsberg?" fragte mein Vater.
Ob er dort einen Obsthändler kennen namens Kempowski, "ka-e-em,pe-o-we,ess-ka-i? "Arthur Kempowski. Obst en gros. Das sei nämlich sein Vetter, direkt im Zentrum.
Nein?
"Nein", sagte der Leutnant rund heraus und spuckte Tabak weg, "nicht daß ich wüßte."

Ich lief mit den Mädchen in den Garten.
"Süß die Kleidchen", sagte Frau von Schmidt.
Wir hopsten über Quadrate, die wir in den Sand gezeichnet hatten, und versteckten uns, wobei abgemacht war, daß man nicht so genau hinkuckte, denn die beiden durften ihr Zeug nicht beschmutzen.
"Jetzt kommt mal ein Räuber und überfallt uns", sagte ich. "Das, glaub' ich, dürfen wir nicht", antworteten die Mädchen.

Meine Mutter, auf der Veranda, über ihrer Ocki-Arbeit, meinte: "Das ist recht, freunde dich ein bißchen an." Wir sollten mal Blumenraten spielen, das wär fein. "Jeder denkt sich eine Blume aus, und wenn ihr euch trefft, ruft ihr: Veilchen! oder was nu grade. Das ist hübsch." Sie habe als Kind immer Hexe über'n Graben gespielt, das sei auch ein nettes Spiel. Sie wisse bloß nicht mehr, wie es geht.
"Oder Abo-Bibo", sagte mein Bruder, "spielt doch mal Abo-Bibo. Das ist auch in Ordnung. Da schmeißt man'n Ball hin und rennt weg. Abo-Bibo-Cettellecker-Dodenkopp."

Meinen Hamburger Anzug war ich los. Für die Reise hatte ich zwei blaue Polohemden und einen ärmellosen Pullover bekomen. Dazu eine feine Hose aus Flanell.
"Du sahst ja wirklich verheerend aus", sagte Robert, so speckig und verpupt. Widerlich, ekelerregentd. Viehisch." Er holte den echten Schildpattspiegel meiner Mutter und hielt ihn mir vor.
Ich sollte mal selbst sagen, ob es so nicht besser wär?

Morgens wehten frisch gewaschene Haarschleifen über dem Balkongeländer.
Lili, ein Jahr älter als ich, brachte mir das Fingerspiel bei: alle 10 Fingerspitzen auf einmal gegen die des andern tippen.
Sie hatte klare blaue Augen und lange, etwas dünne Zöpfe; die warf sie hinter sich.
Elke, die kleinere, sah genauso aus wie ihre Schwester, und beide trugen blaue Kleider mit kleinen bunten Blumen drauf.

In der morschen Liegehalle, in der sich nie ein Erwachser aufhielt, bewirteten sie mich mit zerquetschten Knakkern in Schüsseln aus Baumrinde. Das sei Braten.
Elke hüpfte, wogegen Lili ernster zuwerke ging.
Jasmin rundherum, Dachpape, modriges Holz.

Zuweilen war ich "krank", dann mußte ich liegen und wurde mit einem Zweig "gemessen".
Ob sie nicht mal Wiederbelebungsversuche machen wollten, fragte ich, aber darauf gingen sie nicht ein.

Die Bahnfahrt von Königsberg in den Harz habe einen ganzen Tag gedauert, erzählten sie. "Denk mal an!"
Im polnischen Korridor sei der Zug abgeschlossen worden, Vorhänge zu. Da habe man nicht mal aus dem Fenster kucken dürfen, und dabei sei das doch urdeutsches Land. "Auf us dem Fenstergucken steht Todesstrafe!"

"Was macht meine Haut?" fragte mein Vater beim Abendbrot." ... kennt den Arthur nicht, dieser Idiot. Ein richtiges Archgesicht."

"Und Elke", sagte meine Mutter, "wie kann man sein Kind bloß Elke nennen. Elke... (Sie schüttelte den Kopf.)
"Die Obsthandlung ist direkt am Domplatz. Wenn er aus Könisberg ist, muß er sie kennen."
"Und die Frau, nimm's mir nicht übel, richtig ordinär. Wie die die Ellenbogen aufstützt, und diese Locken!" Vermutlich aus ganz einfachen Verhältnissen. Halbgebildet, respektive demi monde.








Saturday 7 February 2015

KAPITEL 8

Beim Mittagessen sagte meine Mutter zu Robert: "Bring deine Freunde ruhig mit. Sooft du willst. (Man muß doch wissen, was die Kinder treiben.)"
Hammelfleisch und Kohl.
"Aber nicht den Schneefoot, den nicht", sagte mein Vater. "Den will ich hier in meinem Haus nicht sehn.
Hammelfleisch setzt sich immer so am Gaumen ab, wenn es kalt wird.
Das ist ein Rotzlöffel"
Schneefoot hatte meine Schwester mal ins Kornfeld gestoßen und küssen wollen.
"Der hat auch schon so'n komischen Gang", sagte meine Mutter. "Da merkt man gleich, daß was nicht in Ordnung ist. "Er könne einem ja auch gar nicht richtig in die Augen sehn.
"Ja, miesnitz", sagte mein Vater kauend, "völlig verbumfeit."

Es klingelte.
"Iss Waller da?"
"Das wird er woll."

Fliegensuppe. Hoffentlich würde mien Vater nicht die Zitronenschale bekommen. "Na, München-Riem?" sagte er zu Manfred, der sich mit seinen imitierten Lederhosen neben die sechs ineinandergeschobenen Tischen setzte, auf denen eine Flasche Steinhäger mit erntekranzählichem Tropfenfänger stand.
"Hast du schon deine Schularbeiten gemacht? Lesen, Schreiben, Rechnen? Arbeiten, arbeiten, arbeiten, arbeiten... immer arbeiten, immer fleißig sein."

Und Robert, wann gedenke der seine Schularbeiten zu machen? Mathematik, Physik, Chemie?
"Sieh mich an! Arbeiten, arbeiten, arbeiten, arbeiten?"

"Kopf hoch", habe früher Deike, genannt Bobby, immer gesagt: "Le roi." Dan hätten sie im Chor "le roi" sprechen müssen.
"Le roi" heiße "der König". - Und "le soleil", das heiße: die Sonne. Die Sonne sei im Französischen männlichen Geschlechts.
Und der Mond sei weiblich, sagte meine Mutter, der Mond mit seinem silbernen Schein. Das lernten wir alles noch. Das würde nachher noch ganz schön, wenn wir das alles könnten:

Mein Vater deutete mit dem Löffel auf mich: "Sag doch noch mal "Neutland" mein Junge." Gegen die Druckstellen hinter seinem Ohr müsse er bald mal was tun.

An die Wände unseres Zimmers pinnte mein Bruder Bilder von Tommy Dorsey, Harry Roy und anderen Jazzgrößen. Die hatte er aus Plattenkatalogen. Ein Bild von einer Bauernstube mit Hühnern unter dem Bett hängte er ab. Warum er das tue, fragte meine Mutter.
"Das will ich dir ganz genau sagen" antwortete mein Bruder, "einzig und allein aus dem einfachen Grunde, weil wir uns das nun lange genug angekuckt haben. Da kriegt man ja'n ganz verqueren Blick."

Für das Radio schaffte er sich Kopfhörer an. Wenn er die einschaltete, konnte nur er etwas hören. Er hottete still und gleichmäßig vor sich hin. Immer wieder geschah es, daß einer hereinkam und am Lautstärkerergler drehte, weil er dachte: Gott, wie leise... Das zwang ihn dann aus dem Sessel. Wie rasend riß er sich die Hörer herunter, aus denen überlaut ein Foxtrott quäkte.

Das sei schon eine Crux mit uns.

Die Boys kamen gegen drei. Bubi lief immer erst durch alle Zimmer. "Iss deine Schwester nicht da? "Auf dem Flügel ein paar Töne klimpern, das Barometer anschlagen und die Blumenpotte prüfen, ob sie Wasser genug haben. "Was iss'n diss für'n Schinken?"
Nein, meine Schwester sei nicht da, die sei bei Christa. Schade.

Der kräftige Heini konnte die Tonleiter hochrülpsen. Wenn er furzen wollte, was er immer so laut wie möglich tat, drückte er sich im Stuhl hoch und sagte: "Nuntio".

Von Michael ging das Gerücht, er höre auch "klassische" Musik. Liszt sei gar nicht so übel. "Der Liebestraum". Er haßte es, wenn man immer nur schnelle Platten auflegte. Schnell - langsam - schnell: So müsse es gemacht werden. Auch Sinfonien seien so aufgebaut und Sonaten. "Is that clear?"

Er kam auf den Flur wo ich mit Manfred spielte. Die Autos wollte er sehen. Für Azteken interessierte er sich nicht. Wenn er mal einen Eisenträger habe, wolle er mir den leihen, sagte er, auf feine Weise lispelnd. Den könne man gut als Rennbahn gebrauchen.
Ob Manfred auch Autos habe? Hans Stuck in der Todeskurve? Katalognummer 2?
Der rote Alfa Romeo sehe ja komisch aus. Naja, die Italiener.

In seinem rostbraunen Zweireiher mit dem feinen Nadelstreifen wirkte er elegant. In Berlin hatte er eine neue Sonnenbrille gekauft, Zeiss Umbral, und in Gedser ein Spezialfeuerzeug. Das habe einen Katalysator aus Platin, das würde nicht mehr verkauft, weil sonst die Zündholzfabriken pleite machten. Die Pläne lägen in irgendeinem Panzerschrank.
Er fahre öfters mal rüber nach Gedser, zum Kaffeetrinken. Oder besser "Gesser", wie die Dänen sagten.

In the sade of an old apple tree...

Was ich glaubte, wie zackig das da wär. Aber kein Sandstrand wie bei uns. Die könnten da gar nicht baden.

... where the love in your eyes I could see...

Jetzt müsse er aber machen, gleich komme ein Break, den könne er sich nicht entgegen lassen.

Von seinem Taschengeld hatte sich Robert ein Grammophon gekauft, eins zum Aufziehen. Seine erste Platte hieß: "Im Gänsemarsch". Die war ihm von der Verkäuferin aufgeschwatzt worden. Heini schlug sie einmal kurz über die Tischkante."... und das war recht", sagten die andern. Deutsche Tanzmusik sei Seifenschaum. Kornblumenblau. Kurt Hohenberger möge noch angehen, "Amorcito mío", auf Telefunken. Aber Peter Kreuder, oder gar der Igelhoff..."Ach, du grüne Neune."

Woran das wohl liege? Gute Solisten hätten die Deutschen zwar, aber die Arrangements taugten eben nichts.
Auch die Franzosen: Alles Scheiße. Vielleicht gäbe es irgendwo in Nordfrankreich eine Band, von der man nichts wisse. "Mal eben im Atlas nachkucken. "Möglicherweise in Boulogne oder Le Havre, in 'ner rauchigen Hafenkneipe, kaum daß einer zuhört, Zigarette im Mund, Kopf schief, Baskenmütze. Aperitif.

"Kann schon sein."

Die Italiener im Suden, die seien einfach zu schlapp. Kämen hinten und vorn nicht hoch. Das mache wohl die Hitze. Weichheinis. Da wären die Engländer und Amerikaner schon'n andrer Schnack.

Man hatte Platten von Andrew Sisters - "Bei mir biste scheen!" - und von Lours Armstrong, von Jack Hilton und von Nat Gonella.

Gewisse Schlagzeugstellen wurden dauernd wiederholt, die Platten waren dort schon sichtlich abgenutzt. Dazu wurde gebladdelt, mit dem Fuß gestampft, daß die Lampen klirrten, geschrien, geächzt, mit den Armen gefuchtelt, wurden imaginäre Becken geschlagen - "tz-d-d, tz-d-d. tz-d-d" - und Sprünge vollführt, bis Woldemanns gegen die Decke pochten.

Segeln. Zum Klub gehörten auch die Töchter des Werftdirektors Mahnke. "Sehr ordliche Leute." Daß sie von Jazz nichts verstanden, sahen die Jungs ihnen nach. Dafür hatten sie eine Jacht, die man mitbenutzen durfte. "Lucia Warden".

60 Quadratmeter, mit Beiboot und Spirituskocher zum Kartoffelbraten.

Die ältere hieß Sylvia und hatte graue Hosen mit Schlag, die jungere Sybille, schwarzes Haar. Sie ließ sich gern so fotografieren, als kucke sie in die Ferne, am Mast stehend, ein Bein vorgeschoben, das schwarze Haar nach hinten schüttelnd. Beide streiften ihre weißen Armreife auf und lachten über Bubi, der seine Mütze nach hinten schob und bladdelte, über Heini, den kräftigen, der sich das Haar angeklascht hatte, über Robert mit seiner Friseurtasche, der, wenn ihn nicht alles trog - "was weiß ich - wieder mal 'ne Fünf in Mathe geschrieben hatte.

Bubi siteg in die Kajüte hinunter. "Was habt ihr hier denn für neue Gardinen? "Er steckte den Finger durch den Messingring der Kajütentür. " ... und so gut aufgeräumt." Über den Kojen ein Foto von Laboe.

Michael setzte die Segel. "Aufi geht's."

In Warnemünde, am Strand, trugen die Mädchen einen Zweiteiligen, die Jungs Dreieckbadehosen; man sah die Grübchen auf dem Popo. Der Sand war heiß, das Wasser hatte 19 Grad. Bubi beklatsche die ohnedies Braunen mit einer Emulsion: NU - BRA - NU. Nußbraun im Nu. "Hier noch'n bisßchen", und tüchtig verreiben. Blonde Härchen auf brauner Haut. Vielleicht eine kleine Massage? Nein, vielleicht später.

Der Liegekorb wurde zurechtgerückt, Marke Beutel 96, die Mädchen klebten sich Silberpapier auf die Nase und stiegen hinein. Bubi knüpfte nochmal eben Sylbias Hosenbändchen auf, das hatte sich vertüdert.
Auf ihrem braunen Nabel eine weiße Muschel.
Und Heine gab der schwarzen Sybille eine angerauchte Zigarrette.
Wer Strandkörbe mit Ölen und Fetten
beschmutzt, wird für den hierdurch
entstehenden Schaden haftbar gemacht.

Während die Mädchen im Strandkorb schmorten, machten die Jungs Musik auf zwei Grammophonen: lief eines, wurde für das andere eine Platte herausgesucht.
Mister Paganini, please play my rapsody...
"Immer dieser Nigger-Jazz", sagten die Leute in der Nachbarschaft. Dafür würde man ihnen die Burg schleifen, abends, wen sie eben nach oben gegangen waren.

... and if you sing it,
you simply have to swing it...

Daß Art Tatum blind sei und Chick Webb verküppelt, daß Artie Shaw es fertig kriege, eine ganze Nacht klassisch zu spielen, wie Teddy Stauffer dirigiere (eine Hand in der Tasche, lässig) und wie der Schalgzeuger von Count Basie heiße.
"Heini, gibst du nochmal eine Zigarette rüber?"

Manfred und ich saßen in gewisser Entfernung und beobachteten: was - wer - wie - wo - tut.
In großer Höhe drehte ein Doppeldecker einen Looping nach dem andern und weit draußen übte die Marine Schießen.

"Wie lange wollen die sich eigentlich noch sonnen?" sagte Heini.
Selters wurde zischend versprüht: "Iii!, ein Ball in den Korb geworfen, Seetang, Quallen, der Korb umgestürzt, und Sylvia an Händen und Füßen ("hau-ruck!") ins Wasser geschwungen.
Heini, "Wumma", wie man ihn auch nannte, nahm die schwarze Sybille auf die Schultern. Der Raub der Sabinerinnen.
Er stieg mit ihr auf den Wall, kaum daß sie noch das Haar zurückschütteln konnte, und stampfte und wieherte.
Durch das flache Wasser gespritzt, links-rechts, links-rechts, Kinder und OMas zur Seite - bis zum Bauch hinein, und dan fielen sie um und gingen blubbernd unter und waren für eine Weile weg.
(Michael machte Fotos, unter denen später "Wumma in Aktion" stehen würde. Zwei Kameras, eine vorn, eine hinten.)
Weit draußen Sylvia und Bubi, nur die Köpfe zu sehen. Die schwammen mal wieder bis zur dritten Sandbank.

Dann wieder in der Burg: kämmen.
Sylvia mit Haarspangen im Mund.
Man zog sich den Bademantel verkehrtrum an, füllte das neue Hemd, das Michael nicht aus Berlin, sondern aus München geschickt bekommen hatte, mit feuchtem Sand, setzte einen Schildkrötenball als Kopf darauf.
"Haste mal 'ne Stabbel für mich?"

Heini zog einen nassen BH an und drapierte sich mit einem roten Tuch. "Got that rhythm, boys!"
In der Friseurtasche fand sich ein Glas mit Pudding, das im Strandkorb gemiensam ausgelöffelt wurde. Und als es leer war, hatte Robert noch Brote "in petto".
"Robbi", wie sie ihn nannten.
Zatzig, epochal.

"Die nächste Arbeit schreibst du sicher besser", sagte Heini, Schinner lasse später immer etwas nach.
Dafür köne er sich auch nichts kaufen, sagte Robert. Er müsse sehen, wie es komme, vielleicht lasse er sich noch was einfallen.

Platten auflegen, Bladdeln, mit den Armen fuchteln, Bekken schlagen: tz-d-d, tz-d-d, tz-d-d...
Die schneeweiße Promenade. Strandwärter in Uniform. Männer mit Bauchläden
Apfel, Birnen und Bananen
schmecken vor und nach dem Baden...
Und der Doppeldecker machte wieder einen Looping.

Manfred und ich fuhren mit dem Zug zurück.
"Sag deinen Eltern, daß Flaute ist", rief Michael mir nach. "und faß dich an'n Kopf und sag: Kürbis gedeihe", setzte Robert hinzu.

Im Abteil nahmen wir die linke Seite, da konte man die Flugzeugwerke von Heinkel sehen.
Uns gegenüber eine dünne Frau mit Locken. Sie kümmerte sich nicht um das, was es da draußen zu sehen gab. Sie kramte unablässig in ihrer Wachstuchtasche. Hatte sie was vergessen?
Und gerade jetzt landete groß und immer größer eine Hundertelf. Die gäbe es auch mit Schwimmern, sagte Manfred, die He 114, die könne "wassern", so nenne man das. Wie wohl die He 112 aussehe, das möchte er gern wissen, oder die He 113.

Das Emaille-Schild unter der Notbremse war verändert worden:
Jeder Mißb_auch wird_ _straff
stand da jetzt.

Mein Vater wanderte, die Uhr in der Hand, in der Wohnung herum.
"Sind sie noch nicht in Sicht?" telefonierte er zum Jachtclub.
"Ne, Herr Kempowski, sie sind noch nicht umme Ecke."
Verdammte Schweinerei. Hörer aufgeknallt. Und er möchte wetten, daß sie direkt neben dem Apparat säßen und sich hoegten.
Und die Haut juckte wieder einmal, das war ja nicht zum Aushalten.

"Sie werden gewiß gleich kommen", sagte meine Mutter. Die saß auf dem Balkon und genoß den Sommerabend. "Kinder, wie isses schön, nein, wie isses schön. Junge, wie bist du braun..."
Schwalben kamen angelflitzt, und Dr. Krause prüfte noch ein letztes Mal, ob das Tor verschlossen ist. Von der katholischen Kirche her läutete es kräftig.
"Ist eigentlich 'n bißchen doll, nich?"

Ulla saß im Liegestuhl
An der Saale hellem Strande...
Sie trug einen karierten Trägerrock. Schade, sie wäre auch gern mitgefahren nach Warnemünde.
Er sei vielleicht ebensogut, sagte meine Mutter.
Aber Ulla wollte doch noch wissen, ob Bubi mitgewesen sei, und machte dann ihr trauriges Gesicht.

Endlich klickte das Minutenlicht, mein Bruder stieg schnurksend die Treppe hinauf.
Es werde ja auch langsam Zeit! Der ganze Abend im Eimer! Die Familie warte, und der Herr Sohn geruhe zu segeln.

Tee wurde eingeschenkt, die Balkontür geschlossen. Ulla hob den Rock, damit er nicht kraus wird, und setzte sich. Butterbrot mit Tomaten. Die Wurst in Glasschalen auf einem langen Nickeltablett, mit Radieschen und Petersilie verziert. Metzurst und Lebenswurst, Rügenwalder und gekochter Schinken. "Else, bringen Sie doch bitte noch mal eben die Karaffe mit Rum..."
Feinbrot, Schwarzbrot, ganz schwarzes Brot (von Bäcker Lampe, mit besonders dicker Kruste), Fein- und Grobgemengtes.

"War Schneefoot mit?" fragte mein Vater und kratzte sich.
"Nein, natürlich nicht", sagte mein Bruder.
Wieso sei das natürlich? Was? Er habe klar und deutlich gefragt, dann könne er auch sine akkurate Antwort verlangen.
Er spießte die Butterrose auf sein Messer und zerquetschte sie auf seinem Brot.

Wie es mit den Schularbeiten stehe, ob er die gemacht habe. Man höre und sehe nichts.
"Denkst du etwa nicht? sagte mein Bruder und sah ihn gerade an.
Er solle nicht so frech sein, sonst kriege er ein paar hinter die Löffel. Wie sähe er denn überhaupt aus!? Diese Haare! Wie'n Friseurlehrling, völlig verbumfeit.

"Wie so'n Heini", meinte Ulla, "oder ein Lui, besser noch: wie ein Lui. Wie ein Lui."
"Ja", sagte meine Mutter, "er hat 'n richtigen Katerkopf." Ordinär. Widerlich. Ekelhaft. "Wenn du wüßtest, wie widerlich du aussiehst." Er solle mal in'n Spiegel kucken, ob er das schön fände. Frau Amtsgerichtsrat Warkentin habe neuulich schon gesagt: "Ihr Junge, läßt de sich eigentlich die Locken brennen?"

Mein Bruder aß gemütlich weiter. "Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich ein Borstenvieh dran wetzt."
Da war das Maß voll. Mein Vater riß sich die Serviette aus dem Kragen und schrie: "Roztlöffel!" ging nach nebenan und kam wieder.

Und meine Mutter rief: "Ich glaube wirklich, der muß mal tüchtig welche hinter die Ohren haben. Wie isses nun bloß möglich!" Das tue ihm bestimmt gut. Der Kanarienvogel hüpfte auf seine Schaukel und fing an zu trällern." ... man bittet, man fleht!", aber das würde jetzt anders, von morgen an herrsche hier ein strenges Regiment, das könne er sich gesagt sein lassen." ... und du! (damit meinte sie mich) "du wackelst nich so mit dem Stuhl! Das haben wir dir auch schon tausendmal gesagt."

Das sei ja wie bei Högfeld, sagte mein Bruder und schnitt das Fett vom Schinken ab. "Familienzirkus", ob wirdas Bild kennten.
Da setzte sich mein Vater wieder und stopfte die Serviette in den Kragen. Jungedi, sagte er mit schiefem Mund, sowas hätte er sich bei seinem Vater aber nicht erlauben dürfen. Da habe ein anderer Wind geweht.
Einmal, beim Ausholen mit dem Schacht, habe sein Vater die Lampe kaputtgeschlagen. Zäng! Ein Regen von Glas. "Hurregottneja!" Und dan natürlich gelacht.
"Ja" sagte meine Mutter. Ihre Mutter habe an ihr mal eine Rutezum Strunk gehauen, nur weil sie nicht "Gesegnete Mahlzeit" habe sagen wollen.

"Mich hast du ja auch mal vorgehabt", sagte Ulla, "in der Schlafstube, da konnte ich dir nicht mehr entwischen. Mit dem gelben Onkel. "Aua, wenn sie noch dran denke...


https://www.youtube.com/watch?v=EFvYI_WtqxA


Tadellöser und Wolff- 8. Kapitel- Walter Kempowski


http://www.fernandezbaladron.com/


Thursday 29 January 2015

KAPITEL 7

Mittwochs und sonnabends gab es keine Schularbeiten auf, da war Dienst. Wenn es hieß: "Sportzeug ist mitzubringen", wurde geboxt. Für Pimpfe gab es extra dicke Handschuhe, damit es nicht so weh täte. Aber es reichte.

Da war das Marschieren schon angenehmer. Auf der Reiferbahn, unter Kastanien mit strammen Knospen, lernten wir den Unterschied zwischen Kommando und Ankündigungskommando. Wir begriffen, daß die Kehrtwendung auf dem linken Hacken zu machen ist und daß die Kehrtwendung auf dem linken Hacken zu machen ist und daß der Daumen beim "Still-stan'n! angewinkelt werden muß.

Obwohl es in der Vorschrift über den Jungvolkdienst hieß:

Grundsätzlich sind Ordnungsübungen
nicht über die Zeitdauer einer Viertelstunde auszudehnen...

wurden wir meistens den ganzen Nachmittag geschliffen. Im nahen Finanzamt schloß man wegen des Lärms die Fenster, alte Frauen setzten sich woanders hin. Aber Oberlehrer Bartels, der blieb stehn und kuckte zu.

"Halt die Hand da nicht so blöd", sagte Eckhoff, mein Führer; er legte sie mir zurecht. (Bartels nickte.) Sie fühle sich an wie ein Stück Klopapier. Ich sei eine Pißnudel, ob ich das geschnallt hätte?

(Mein Koppel stand immer auf halb acht.)

Lästig war ihm, daß ständig ein kleiner halbirrer Junge um ihn war. Der fragte dauernd, ob er nicht auch mitmachen dürfe. (Bartels schüttelte den Kopf.)

Schließlich packten ihn zwei und warfen ihn mit Schwung über einen Zaun.

Zu Hause wurde ich von meiner Schwester fotografiert. Die Sonne schien, ich mußte blinzeln. "So ist's recht!" rief sie, ich solle mal recht fröhlich dreinschaun. Und: Hände an die Hosennaht!

Abends probierte Ute meine Kluft an. ("Laß das bloß seinen sehn!) Ich schloß ihr das Koppel, die Hose saß ziemlich stramm. Sie marchierte ein paarmal auf und ab und machte "Heitler" vor dem Spiegel. Das Käppi sei pfundig. Dann legten wir uns unter den Tisch. Schön warm war das und mollig. Ob wir uns bei den Pimpfen oft hauten, wollte sie wissen.

An einem Wochenende ging es auf Fahrt nach Doberan. "Dschungedi!" rief mein Vater, "du willst auf Fahrt? Die blauen Dragoner sie reiten?"

"Primig", sagte mein Bruder, ich sei ja direkt ein Hauptkerl. Und meine Mutter sagte: wenn was wär, sollte ich mich an Tante Luise wenden, eine herzensgute Frau, die wohne auch in Doberan. "Mein Peterpump."

Auf dem Diensttbefehl hatte gestanden: "Antreten 14 Uhr, Hauptbahnhof." Unter der Normaluhr war Sammeln. Schuhband, ein kleiner blonder Pimpf, marschierte quer über den Platz, als müsse er Gleichschritt halten. Er machte sogar Schrittwechsel.

Eben stieg Frau Amstgerichtsrat Warkentin schwerfällig in den Triebwagen der Linie 11. (Anhänger kam nicht in Frage, da saßen Arbeiter und rauchten.)

"Ach wissen Sie", hatte sie mal zu meiner Mutter gesagt, "der deutschen Jugend kan heute keiner mehr den Schneid abkaufen."

Alle hatten eine Affen, nur ich nicht. Ich trug einen unförmigen Wanderrucksack. Der stammte noch von der Hochzeitsreise meiner Eltern, 1920 Tegernsee.

Als Decke hatte meine Mutter mit das italienische Plaid mit den Fransen herausgesucht, das sonst im Gästezimmer auf der Couch lag. Weil es sich nicht über den Rucksack schnallen ließ, hielt ich es über dem Arm.

"Schreibzeug ist mitzubringen", hatte es geheißen: ein nach Eau de Cologne riechendes Notizbuch aus der Handtasche meiner Mutter (Goldschnitt) und ein Zimmermannsbleistift.

Über dem granitenen Hakenkreuz, das am Haupteingang des Bahnnhofs angebracht war, erkannte man immer noch die etws verblaßten, aber noch deutlich sichtbaren olympischen Ringe.

Ich rufe die Jugend der Welt!

(Jesse Owens lief zehn zwo und von Wangenheim holte trotz Schlüsselbeinbruchs eine Goldene.)

Eckhoff, unser Führer, sagte, er habe sein Fahrtenmesser angeschliffen. An seinem Koppel hhing eine Meldetasche mit sechs angespitzten Bleistiften. Beim Geländegespiel sollten wir acht geben, daß wir dem Unterlegenen den Brustkorb nicht eindrückten. Das sei schon vorgekommen.

A - e - i - o - u
So würde eine Meldung gemacht.
"Was - wer - wie - wo - tut. Ist das klar?

Als wir noch so standen und auf den Pimpf Habersaath warteten, der sich verspätet hatte - "das iss'n richtiger Teepott" - kamen plötzlich meine Mutter und Ulla unter den Linden der Bismarckstraße hervorgeradelt.

Mit fliegenden Röcken sprangen sie ab, nur eben wollte sie mir auf Wiedersehn sagen.

"Na, Dickerli?" Sie mischten sich mit frohem Blick unter die Pimpfe, und Ulla legte mr die Hand auf die Schulter und meinte, nun sei ich schon ein großer Bub.

Wer der Führer sei, wollte meine Mutter wissen. Der da mit dem braungebrannten Gesicht? Das sei der Sohn von Studienrat Eckhoff? Fein...

Inziwischen war Habersaath herangekeucht.

"Wir sprechen uns noch..."

Es konnte losgehn. Wegen des nich zünftigen Rucksacks, sagte Eckhoff, sollte ich mir keine Sorgen machen. Ich dürfte hinten gehen, dann dächten die Leute, ich sei der Furier.

In Doberan lagen wir in einer Scheune. Man hatte uns stroh hinengetragen. Mein Nebenmann, der kleine Blonde Schuhband, pfiff vergnügt vor sich hin. Heute nacht käm' der Heilge Geist, das sei klar. Arch mit Wichse einschmieren, durchhauen, unter die Pumpe halten. Mit seinen Latzschuhen, deren Sohlen mit sechseckigen Nägeln beschlagen waren, ließ er auf dem Hof Funken springen.

Das Münster mit den alten Klostergebäuden. Eckhoff führte uns hinüber. Deutsches Kulturgut angucken. Vorher noch mal schnell Schuhe putzen. Vor dem Münster stand ein weißer Holzschwan. Der habe "Doberan! Doberan!" gerufen, daher der Name "Doberan". An solchen alten Sagen sei immer das Wahres dran, das könnten wir uns mal merken.
Die Klostermauer habe man im vorigen Jahrhundert als Stenbruch benützt. So etwas gee es unter unserem Führer nicht.

"Alle mal herhören! Wenn wir da nun reingehn, dann sind wir uns bewußt, daß dieser Dom ein Erzeugnis deutschen Geistes ist! "Kunst komme von künden". - Bis weit in den Osten künde die Baukunst deutschen Geist. So hätten wir damals man weitermachen sollen, anstatt immer nach Italien zu ziehen.

"Die Tür ist bestimmt zu, in allen Kirchen sind die Türen immer zu."
Die Tür war offen.
Er ließ uns der Reihe nach vorbeimarschieren, wie die Flaschen in der Fabrik. Schuhe alle sauber? Fuß heben, Steg zeigen! Kein Fleck? Halstuch hinten zum Dreieck gezurrt? Wer nicht spurt bleibt draußen.
Drinnen übte ein Orgelspieler. ("Wir haben Glück.")

Der Küster fragte, ob wir sähen, daß die Pfeiler so emauert wären, als kämen sie von oben herab?
"Kein Mensch weiß, wie sie das damals gemacht haben."
Auf Türme hätten die Zisterzienser absichtlich verzichten, die seien ja auch zu gar nichts nütze.
"O doch", sagte Eckhoff und blitzte ihn an, "o doch".

Der Orgelton verstummte jäh.
"Das ist doch ein Witz!" rief der Organist laut, er hatte sich mehrmals an derselben Stelle verspielt.

Eine weitere Besonderheit der Kirche seien die Grabsteine.

Hier ruhet Herrn von Sallern,
Mein Gott, wat däd hei ballern,
Wenn hei de Buern kloppt!
Nu hewwen sei em hier inproppt.

Offensichtlich hätten sie damals auch Humor gehabt.

In einer nach kaltem Schweiß und Lysol riechenden Turnhalle war bunter Abend.

Wildgänse rauschen durch die Nacht
mit schrillem Schrei nach Nordern...

Zum Kennenlernen, wie es heiß.

Eckhoff trat vor und las Gedichte, Daumen am Koppel, knappe Gesten mit der Faust.

Der Führer spricht
Von Richard Euringer

Was zerstiebe, das war Spreu
und was bliebe, das bleibt treu.

Und was treu geblieben,
könnt ihr sechsmal sieben.

Das bleibt Weizen und nicht Spreu
Damit sä´ich Deutschland neu.

"... Die beiden Maschinengewehre haben den rechten Flügel der erssten Welle mit zweimaligem Hin- und Herschwenken des Laufes erfaßt, und die schwarzen Menschen winden sich brüllend auf der Erde. Etwas höher den Lauf, wenige Striche höher nur... und die zweite Welle... und bevor die Neger überhaupt begriffen haben, was geschieht, ist der ganze rechte Flügel zusammengesackt..."

Drumm, drumm, diri, hei diri diri drumm...

Dann nahm Eckhoff ein anderes Buch, sah kurz hinein, legte es beiseite und sprach in singendem Tonfall:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

https://www.youtube.com/watch?v=wN5gtmtqIoo

"Und nun wollen wir lustig sein!"
Wisse einer´n Witz?
"Was sieht einer halben Kartoffel am ähnlichsten?" - "Die andere Hälfte".
"Was ist egal?" - "Ob das Fenster halb zu oder halb offen ist."
"Was ist der Unterschied zwischen Klavier und Eichhörnchen? - "Stell beides unter einen Baum, was hochrennt, ist das Eichhörnchen."
Hahaha,
hahaha,
hahaha!

Unsern Jubel ruft das Echo uns zurück.
Laßt uns fröhlich sein und lachen,
denn nicht ewig währt das Glück.

https://www.youtube.com/watch?v=cAZTLDfZvdU

Dann mußte einer rausgehen, und dem wurde unter irgendeinem Vorwand Mehl ins Gesicht gepustet.

Scharade: RAUBMORD.
Beim ersten Bild hauten sie sich, beim zweiten Bild hauten sie sich und bei der Zusammenfassung hauten sie sich noch einmal.

Draußen wurde ein Feuer angezündet. Wir kauerten uns in die Runde.

Es sollen verbrennen
im Flug der Flammen
Scheelsucht und Feigheit,
Hochmut und Neid!...

Sonderbar, gerade jetzt fing die Glocke des Münsters auch noch an zu läuten...

...Nacht soll erliegen!
Sonne soll siegen!
Sie schmiede uns erzen
und mach uns gefeit!

Die Herbergseltern traten aus dem Haus.

Über den Himmel huschten Fledermäuse.

...drum reinigt die Sinne zur Herzsonnenwende,
drum eint euch zur Flamme, - seid alle bereit!

Hiermit wär der bunte Abend beendet, sagte Eckhoff. So werde das gemacht: ernst - heiter - ernst.

In der Nacht gab es lange keine Ruhe,
"Laß das, du Sau!"

Eine tote Maus wurde hin - und hergeschmissen.
Das Plaid hart wie Pappe.
Das Stroh piekte, und darunter drückte die Tenne. Es war kalt.
Miesnitzdörfer & Jenssen.
Mit Schrecken dachte ich an den nächsten Morgen. Da würde man sich mit bloßem Oberkörper waschen müssen.

Schuhband knisterte mit Bonbonpapier.
Er kitzelte mich damit an der Nase, machte mir "1000 Stecknadeln" und setzte sich schließlich auf meinen Bauch.
O, das war gut, das war warm.

Schließlich kam Eckhoff und schrie: "Ruhe!"

Wenn er noch einen Ton höre, dann räume er hier auf. Daß er sich nicht auf uns verlassen könne, das enttäusche ihn. Morgen fahre er mit uns Schlitten, darauf könnten wir uns verlassen. Arsch aufreißen, schleifen, bis uns das Wasser im Hintern kocht.

Er hatte eigentlich in die Stadt gehen wollen, deshalb war er so wütend.

Mitten in der Nacht wachte ich auf.
Vollmond schien in die Scheune.
Ich lag auf dem Gang, Plaid weg, kein Stroh.
Lange dauerte es, bis ich meinen Platz gefunden hatte.
War ich denn mondsüchtig?

Am nächsten Morgen wurden Bretter auf Böcke gelegt: Brötchen mit Vierfruchtmarmelade. Der heilige Geist war nicht gekommen.

"Zwei Mann zum Kaffee nachfassen!"
Vater aß jetzt gewiß sein Ei, und Gelbes lief ihm über die Finger.

Dem Habersaath hatten sie die Maus auf sein Brötchen gelegt, der Schwanz hing runter.
Es freue ihn, daß wir Spaß verstünden, sgte Eckhoff.
Ein rechter Pimpf sei immer fröhlich.

Nach dem Frühstück war Antreten.
Was gestern nacht gewesen sei... da schweige des Sängers Höflichkeit, sagte Eckhoff. Schwamm drüber. Aber damit er sehe, was wir für Kerle seien, gehe es heute ins Gelände.
"Ihr nehmt die Fahne, und ihr versucht sie zu klauen."

Wir könnten unsere Knochen numerieren lassen, sagten die von der andern Partei und marschierten, mit den Fäusten drohend, in den Wald.
Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde rauhes Gesicht.

Jungenschaftsführer Nickel, Sohn eines Ackerbürgers, meldete sich freiwillig als Späher. Ich sollte sein Melder sein. Ob ich denn überhaupt wisse, wie eine Meldung geschrieben wird? Fragte Eckhoff. A - e - i - o - u? Nein? Teepott! Was - wer - wie - wo - tut.

"Was der da tut, verstanden?"

Der Nickel ließ die Hosen runter, strich das Braunhemd glatt, nahm die Zipfel zwischen die Beine und zog die Hose wieder hoch.

"So, nun kan's losgehn."

Ich steckte das nach Eau de Cologne riechende Notizbuch ein und den Zimmermannsbleistift.

Was - wer - wie - wo - tut.

Gesundheitspaß, Ausweis, Verbandspäckchen, Liederbuch. Alles da.

Zunächst nahmen wir den Weg, den die andern gegangen waren. In der Ferne hörten wir sie lärmen.

Herrlich, diese Natur, nicht?
Der schöne blaue Himmel und die Wolken, wie die da so rüberziehen. "Schade, daß hier keine Auerochsen mehr herumlaufen. Aber das ist bald wieder soweit."
Kriechender Günsel.
Und die Vögel. Ob er wisse, wie "Eichelhäher" auf Platt heißt.

Nickel holte sein Fahrtenmesser heraus. Er sei neugierig, ob man mit dem Fahrtenmesser einen Baum fällen kann. Was ich meinte, ob er es wohl schaffe?
Vielleicht. Aber aufpassen, wohin er kippt.

Aus Borke ein Schiff schnitzen, vorne spitz, hinten grade. In die Mitte ein Loch bohren und als Mast einen Zweig hineinstecken. Aus Moosplacken und Steinen einen Hafen bauen. Einen Tannenzapfen als Leuchtturm. "Schade, daß hier kein Bach ist."

So vergingen Stunden. Weit entfernt hörten wir Gebrüll. Man hatte sich gefunden, auch ohne unser Pirschen.
"Los, hin!"
(Was - wer - wie - wo - tut!)
Die Fahne ist mehr als der Tod.

Bald hatten wir die Pimpfenknäuel erreicht. Ich legte mich auf einen der ächzenden, schwankenden Haufen. Wer da wohl drunterlag.
Eckhoff bückte sich, die Trillerpfeife in der Hand, der wollte das wohl auch gern wissen.
Ich sah Schuhband von einem Baum klettern, er war von der andern Partei.
"Komm, wir beide!"
Wir umarmten uns und schwankten ein wenig. Die andern sollten denken, wir seien gewaltig am Kämpfen. Dann allmählich hilegen, sanft, daß man sich nicht wehtut. Gleich unten liegen, gleich... unten!

Plötzlich kriegte ich einen Blecheimer an den Kopf. Wer weiß, wo der herkam.
Blut tropfte.
"Herrgott, geht doch ein bißchen zur Seite! "rief Eckhoff. (Kopfwunden bluten immer gleich so stark...)

Eckhoff mit dem schmalen, braunen Gesicht und den gleichmäßig verteilten Sommersprossen.
Ich sollte mich am Riemen reißen, raunte er mir zu, ob ich das geschnallt hätte.
Seine grüne Führerschnur hing herunter. Lange, säbelartig gebogene, nach Erde riechende Oberschenkel.
Er setzte mir das Verbandspäckchen auf die Wunde wie einen Hut.

"Steh mal auf - geht's?"
Ja, es ging.
Er schlug mir auf den Rücken.
"Nun haben wir einen Schwerverletzten."
Ich sei ein ganzer Kerl. Auf mich könne man sich verlassen. Er habe auch schon mal geweint.

Meine Mutter zu Hause: Ogott, Junge, was hast du denn gemacht. So kriegt man nun sein Kind wieder..."
Ich dürfte mich sofort ins Bett legen, Knäckerbrot mit Butter und Johannisbeergelee.

Ihr Sohn habe gesagt, ich sei verletzt, fragte Frau Eckhoff am Telefon. Ob es denn schlimm sei? Schmerzen? - Tetanus? Nicht besser rasch noch impfen? Die Hitlerjugend sei in einer Kasse drin, das wisse sie genau. Leipziger Verein Barmenia? Ob sie da mal anwecken solle?

Mein Vater meinte, ich sei wohl ziemlich iben, was? "Total verbumfeit, Herrgott, wie isses möglich."
Robert sagte, mit dem Kopfverband säh ich aus wie der Nizzam von Heiderabad.
Er trug ein goldenes Kettchen am Revers, das Abzeichen des Jazzklubs, den er mit seinen Freunden gegründet hatte. "RSBB" nannte sich der: Rostocker Swing Boys Band.
So wohl hatte ich mich lange nicht gefühlt.



Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 7. Kapitel

http://www.fernandezbaladron.com/


 
 
 
 









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Friday 23 January 2015

KAPITEL 6

Dicker Krahl hatte ein großes Zimmer ganz für sich allein. Zu ihm ging ich fast jeden Tag. Unter dem Fenster eine AEG-Mignon. Die Buchstaben mußte man auf einer Tafel suchen und mit dem Typenkopf auf das Papier hauen. In der Ecke ein Bett.

"Durch das Land der Skipetaren".

In der Mitte des Zimmers stand ein ausgezogener Tisch, darauf war eine Stadt aus Bauklötzen aufgebaut, mit Läden, Litfaßsäulen und einem Rathaus. Klein- Winzigerode. Die blieb abends stehn.

Ich war Spediteur. Drei Märklin-Fernlaster mit weißer Rautenleiste an der Ladefläche und aufsetzbarer Leinenplane. Sie rückwärts in den Hof zu lotsen und auf den Millimeter genau nebeneinanderstellen. Reifenspurenhinterlassen... Krubbe, Spediteur. - Ich hätte fünf von den Dingern haben mögen oder zehn. Den Kopf auf die Tischplatte legen, dran entlangkucken, Kühler an Kühler.

Dicker Krahl war der Bankier, er verwaltete die Konten. Das von Klaus Greif, der gute Geschäfte als Baustoffhändler machte und das von Manfred, dem Tankstellenbesitzer. Von jeder verbuchten Summe berechnete er 6%.

"Prozentrechnen, wie macht man das?"

"Durch 100 mal 6; kaprisco, kaprivi, Kapernaum?

"Yes. It's clear."

Manfredwar schlecht dran. Niemand kaufte sein Benzin. Die Autos schob man ja. Eines Tages brachte er eine Pipette mit. Damit wollte er den Autos Wasser einspritzen. Solange sie die Feuchtigkeit hielten, dürften sie fahren, schlug er vor. Dies wurde abgelehnt.

Dicker Krahl war außerdem Bürgermeister, Richter und "Pozelist". Wenn man von ihm was wollte, holte er erstmal die Taschenuhr heraus, wie spät es denn überhaupt sei.

Er wohnte im Seitentrakt des Rathauses. In seiner Garage ein offener schwarzer Mercedes, ein 6-Sitzer, im Katalog als "Führermercedes" bezeichnet, den hatten wir von Struck geliehen. Das Rathaus mit hohem Turm, oben drin ein Wecker, der zum Aufziehen herausgenommen wurde. Alle Gebäude waren oben offen, damit man die Halmamenschen auch führen konnte. Da saßen sie in komfortablen Knetgummisesseln, an Knet gummitischen, tranken aus Knetgummitassen und aßen Knetgummitorte, grün mit gelben Tupfen: "Knetgummin". Sie trugen Papierkleider, die es in einem Warenhaus zu kaufen gab.

Zum Kaffee kam Frau Krahl nach oben gekeucht, dick, in Familienkorpulenz. Sie stellte uns Schmalzbrote hin, und jeder kriegte eine Tasse Schokolade. Das Schmalz war erstklassig, nicht zuviel Äpfel drin, die Grieben kroß und aromatisch.

"Speelt ji hier ok schön?"

Herr Krahl,ebenfalls dick, cholerisch, ließ sich selten sehen. Er besaß ein kastenförmiges Auto mit Gardinen. "Na, du Maihecht?" sagte er immer zu mir, und einmal, als ich ihn fragte, ob ich mit Fritz spielen könne: "Hüt nich; sünd all twee bäben."

Eine Zeitung wurde herausgegeben und ein Museum gebaut. Klaus Greif errichtete es aus Anker-Steinbaukästen, dauerhaft und repräsentativ: vor der Front eine Reihe hoher Säulen, einen Knetgummifries am Giebel: "Schlacht bei Sparta."

Das Museum hatte verschiedene Abteilungen, in denen hingen Zigarettenbilder ("Die Malerei der Gotik"). In einem Saal, zu dem man über einen Innenhof gelagte, waren WHW-Plaketten wie Epitaphe angebracht. DER SAAL DES 1. MAI. Im Innenhof zwei präsentierende Lineol-Soldaten als Skulpturen.

Zur Einweihung des Museums erschienen die Halmamenschen vollzählig. Alle Grünen ordneten wir zu Militär. Die Blauen waren Marine aus Kiel, die Roten freiwillige Feuerwehr. Schwarz die SS.

Das alter ego von Bürgermeister Krahl fuhr im Führermercedes die geschmückte Hauptstraße entlang, gefolgt von einem Rennwagenkordon in Silber. Gelbe Halmasteine als SA umsäumten die Fahrbahn.

"Heil!" riegen wir mit Flüsterstimme, das klang laut und entfernt zugleich.

Sollte man den Marktplat nicht lieber neu gestalten? Rathaus, Museum und - , ja: Kirche oder Kino, das war die Frage. Dicker Krahl besaß eine Lanterna Magica. Das gab den Ausschlag: Kino. Manfreds Tankstelle müsse dann allerdings verschwinden.

"Immer ich", sagte er.

"Du bist dann eben ein Jude..."

Manfred griff in die Kasse des Bankiers. Klaus Greif rief: "Halt!" Bis auf weiteres nahm er ihn in den Schwitzkasten. Der Bürgermeister warf Manfreds Halmastein-Doulble ins Gefängnis, eine mit Streichholzgittern versehene Knetgummi-Kiste.

Die Mauern der neuen Tankstelle wurden eingerissen, das Knetgummimobiliar der Wohnung auf dem Marktplatz versteigert. "Wir wissen ja gar nicht, wie lange du uns schon bestohlen hast!"

Was sollte man mit seinem Halmastein tun? Kopf abhacken? Aus dem Fenster schmeißen, verbrennen, eingraben? Das sollte Sache eines ordentlichen Gerichtsverfahrens werden.

Manfred rief, er müsse jetzt nach Hause gehn.

"Hähä! Wir lassen dich man nicht!"

Doch, wir müßten ihn lassen! Er habe seine Schularbeiten noch nicht gemacht, er müsse zum Zahnartz! Sie kriegten Besuch!

Klaus Greif warf ihn auf das Bett.

"Jetzt sollst du mal sehen, was dir passiert!"

Davor bewahrte ihn jedoch Frau Krahl: "Klausi, din Vadder hett allwedder anweckt, du sast na Hus kamen..." sagte sie.

Was ich meinte, fragte Manfred auf dem Nachhauseweg, was Klaus Greif wohl mit ihm vorgehabt habe? Ihn fesseln? Auf den Oberarm schlagen? Auf dem Oberarm gäbe es eine Stelle, wenn man die treffe, dann sei der Arm'ne ganze Zeit lahm. Oder was sonst? Vielleicht peitschen? Was meinte ich? Ob ich die Bastonade kenne? Da würden die Füße hochgebunden und mit dem Stock draufgeschlagen. Das stelle er sich eigentlich nicht so schmerhaft vor. Auch stranguliernen, das könne er aushalten. Aber den Arm in kochndes Wasser halten und dann "den Handschuh aufziehen"... Das wär doch wahnsinnig! OB dann die Adern auch mit abgingen oder ob die so oberhalb des Fleisches lägen?

In "Zwischen Rot und Weiß" würde beschrieben, wie sie Gefangenen die Eier mit zwei Zeigelsteinen breitquetschen.

Mein Zuspätkommen wurde zu Haus mit Wohlwollen hingenommen, ich erzählte ja von Geldüberweisungen und von Schecks.

Ob scho mal einer pleite gemacht habe? wollte mein Vater wissen, so wie Herr Lange zum Beispiel, den kennte ich doch, nicht wahr? Das wäre der, der sichh und seine Familie jetzt kümmerlich vom Klavierstimmen ernähren müßte. ("Der arme Mann.")

Angebot und Nachfrage regle die Wirtschaft, der Schwacche werde zerquetscht. Klare Sache und damit hopp!

Herrlich, daß ihr so schön spielt", sagte meine Mutter, "fabelhaft."

Das sei ja das Schade, sagte mein Bruder, daß er damals keinen so guten Freund gehabt habe: Den halt dir man warm."
 
 
Tadellöser und Wolff - Walter Kempowski - 6. Kapitel








 
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Friday 9 January 2015

KAPITEL 5

Als wir dann zur Oberschule kamen, holte Manfred mich jeden Morgen ab. Gewöhnlich saßen wir schon alle am Frühstückstisch, wenn es klingelte. ("Was macht meine Haut?") Das dicke Bunzlau mit der bunten Kaffeekanne, auf dem Pfingstmarkt gekauft. Jeder hatte sein eigenes Gedeck, die andern waren "giftig".

"Iss Waller da?", fragte Manfred draußen.
"Das wid er woll", antwortete das Mädchen und ließ ihn herein.

Während ich meine zwei Brötchen mit Butter bestrich - mein Vater grabbelte sich stets die krossesten - saß Manfred in einer Nische, die durch das Treppenhaus, das Baumeister Quade vom Eßzimmer abgezweigt hatte, entstanden war; die Beine um den Stuhl geschlungen. Neben ihm die sechs ineinandergeschobenen Beisetztischen und über ihm ein Bild von den Ostseedünen bei Graal. In Graal hatte sich meine Eltern kennengelernt. ("Immerlos wollte er mich küssen, und ich dacht' ich krieg' davon ein Kind. War ja man ein Aap.")

Ob ich Relli gemacht hätte?

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt

https://www.youtube.com/watch?v=bVW-Te3wRRU

Gestern seien die Gartenschau-Marken herausgekommen. Dunkelgrün und purpur. Ich würde wohl keine mehr abkriegen. Der Block von München-Riem koste heute schon 15 Mark und den hätte ich auch nicht.

Wie heiße der? wollte mein Vater wissen, ihm lief das Eigelb über die Finger.

"München-Riem? Was soll das bedeuten?

Dick Butter und dünn Johannisbeergelee aß ich am liebsten. Einstippen in Milchkaffee war erlaubt.

Wo Manfreds alter Herr gedient habe, wollte mein Vater wissen. Soso, bei der Artillerie. (Kavallerie wäre besser, Marine erheblich schlechter gewesen, denn: "Die haben uns damals verraten.") Bei der Artillerie müßten sie gut rechnen können. Er habe die Leute immer bewundert, die könnten ja gar nicht sehen, wohi sie schießen. - Die hatten ja auch andere Helme. Zu meiner Mutter sagte er was von St. Quentin "St. Quentin", das sprach er so aus, wie es geschrieben wird.

Meine Schwester aß saure Gurken und trank dazu lauwarmes Wasser. Sie steckte ihren Ratzefummel ins Fülleretui und riß den Reißverschluß zu.

"Nun tu ir die Liebe und melde dich schön", sagte meine Mutter und reichte ihr das blaue Oktavheft, in das sie zuvor gewisse notwendig gewordene Eintragungen gemacht hatte.

Ich mußte miene Kalktablettenehmen und einen Löffel Lebertran.

Mein Vater saß schon wieder über dem Kalenderblatt 1689, die Franzosen verwüsten Heidelbert.

"Hm, hm." Ich solle mein Schulbrot auch ja aufessen, es wegzuwerfen sei eine arge Unsitte. Robert sagte, arme Leute hungerten, und ich schmisse mein Schulbrot weg, das sei doch miteinander schier nicht zu verquicken.

Auf dem Schulweg - "Seifenheimchen" - kam man an einem sehr schmalen Haus vorbei, Anno 1903 stand über der Tür. Im Fenster lagen stets zwei Pekinesen, wenn sie uns sahen, kläfften sie wie rasend. Gleich daneben die ausgebrannte Syagoge, mit einem zerbrochenen Davidsstern am gußeisernen Tor.

"Da wohnen noch richtige Juden", sagte Manfred. Er habe im Adreßbuch nachgeschlagen. "Abraham Glücksmann Synagogendiener."

Im Patriotischen Weg habe man abgeschnittene Finger gefunden, das Werk Israels. Die mordeten Christen, zerstückelten sie und schmissen sie weg. Das wär für die eine gute Tat. In jeder Synagoge existiere ein verkrusteter Blutkeller. Dafür kämen sie in 'n Himmel. Und auf dem jüdischen Schlachthof würden die Tiere alle erstmal gemartert und dann langsam zu Tode gequält.

Auf der Höhe der Hilfsschule, dem "Margarinegymnasium" überholte uns Robert. Er ging dazu auf die andere Straßenseite hinüber. Schon von weitem hatte man ihn die Uhr aufziehen hören. Er trug eine winzige Aktentasche, eine Friseurtasche, wie er sie nannte. Wenn man darüber lachte, sagte er: "Am vielen Lachen erkannt man den Narren."

Toni Leo, Heilgymnastin. Bei Café Drude warf er seine Zigarette hinter den Telefonkasten. Da war es nicht mehr weit, da begegnete einem womöglich ein Lehrer.

Unser Gymnasium hieß jetzt "Schule bei den sieben Linden".

"Wie blödsinnig", sagte mein Vater.

Statt Sexta, Quinta, Quarta, mußte man eins, zwei, drei sagen. Das Tragen von Schulermützen war verboten.

In der Halle eine mit Tinte bekleckste Laokoon-Gruppe. Liegengebliebene Jacken wurden den beiden Knaben übergehängt.

"Heb das Papier da mal auf."

An der Wand eine aus bunten Nägeln zusammengehauene Hitlerjugendraute. Antreten Mittwoch 15 Uhr, Sportpalast.

"Nimm die Hand aus der Tasche, Jung."

Bei der Aufnahmeprüfung in die Oberschule hatte ichh "weil" mit "h" geschrieben. Auch die Porzellan-Püppchen, von denen im WHW-Diktat die Rede war, gelangen mir nicht recht. Aber selbstvertändlich wurde ich aufgenommen. Ich war doch der Sohn von "Körling". (17 Schock Eier kosten 51 RM; wieviel kosten dan 2 Mandeln?)

Was unsere Väter on Beruf sind. Bankdirektor, Landrat, Fliegeroberingenieur. "Schiffsmakler und Reeder", sagte ich. "Iss eins nicht genug?" wurde da über die Brulle gefragt. Abteilungsleiter beim Beamtenheimstättenerk, das war nicht sehr attraktiv.

Zwei Lehrer standen zur Auswahl: ein kleiner dicker mit Glatze und ein größerer finsterer mit einem Kopf wie ein Uhe. Der kleine Dicke, so stellte ich mir vor, der müsse sehr gemütlich sein. Bloß nicht zu dem Uhu kommen!

Der Dicke mit der Glatze zog mit den Seinen ab, ich kam natürlich zu "Hannes", dem Uhu. Typisch."

"Nach Johannesbeeren müßt ihr ihn mal fragen", rieten ältere Schüler.

Bei Hannes hatten wir dann alles, inklusive Religion. Ich war gleich fein heraus, weil ich den Gegensatz von "absolut" wußte. Güngstig wirkte sich auch aus, daß Hannes meinen Bruder nicht gehabt hatte, der war bei Kniese, dem kleinen dicken gewesen.

Immer wieder sprach Hannes über das Gotterlebenim Kriege. Im Unterstand, da habe es sich gezeigt. Am Revers seiner grünen Jägerjoppe trug er das Eiserne Kreuz in winzigeer Ausführung. Einmal fehlte es, hatte er es verloren? Ich meldete mich.

"Du bist kurz vor dem silbernen Löffel", meinte er da, und das war weiß Gott kein Lob.

Hannes war, wie mein Vater, Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer. Er bekomme bald den Doktor ehrenhalber, wurde gesagt, auf Zetteln habe er Tausende von Straßen- und Flurnamen katalogisiert. Der Borenweg, in dem er wohne, müsse eigentlich Boarenweg heißen, und das habe mit Bären garnichts zu tun. "Boaren", das sei nur eine lustige Bezeichnung für alte Stadtwächter. Borenweg 6 wohne er, das sollten wir uns merken, wenn mal was wär.

Seestadt Rostock, 121.300 Einwohner, Industrie-, Handels- und Universitätsstadt, am linken Ufer der unteren schiffbaren Warnow, 15 m ü. M.

"Blutstraße", das komme von "blot"= bloß.

Diese Straße sei nicht gepflastert gewesen, deshalb "blot". Wir glaubten wohl, da sei das Blut vvon Geköpften geflossen. Die Marienkirche sei, so lernten wir, 10 Rechenkästchen breit und 12 Rechenkästchen hoch, das Querschiff nicht eingerechnet. Bei der Petrikirche verhalte es sich 4:16. Deren Turm habe einen Buckel: so! Und er machte uns den Buckel vor, als wolle er dem Winde trotzen.

Am leichtesten war das Rathaus zu zeichnen: zwischen den sieben Türmchen je zwei Kasten Abstand.

Die Stadtmauer werde renoviert, ob wir das schon gesehen hätten. Jeden Ziegel reinigten sie mit einem Sandstrahlgebläse. "Fabelhaft, wie der Hitler das macht."

Standartengotik! Sieghaft, jauchzend schnellen die Senkrechten empor...

Als Naturfreund ließ er uns das Skelett des Walfisches zeichnen, was wir nur mit Blaupapier schafften. Die Bucher waren für imer ruiniert. Walfische gehörten zur Gattung der Säuger, sie brächten ihre Jungen lebend zur Welt, einsam im weiten Ozean. "Sieh mal, wie der Schäfer hämisch grinst..."

Im übrigen: Wir Menschen würden es bald so weit bringen, daß diese Tiere ausstürben. Abgeschlachtet; brutal, rucksichtslos. Widerlich.

Die Störche würden auch immer weniger, und die Kolkraben.

Der Eichelhäher, wie der wohl auf Plattdeutsch heiße. Da seien wir wohl gespant, was? Eickelhäcker vielleicht? Nein, "Markwart", heiße der.

Wisente würden jetzt wieder ausgesetzt. Da ginge es aufwärts. Erfreulich sei, daß die frisch ausgesetzten Tiere bereits flüchtig würden. Das sei ein gutes Zeichen.

Aufsätze verfaßten wir über die Wiese im Juni. Während wir sie schieben, war Hannes mit einem Artikel über ein ähnliches Thema beschäftigt, oben, auf dem Katheder. Der erschien am Sonnabend im "Rostocker Anzeiger". Seine Schularbeiten seien das, sagte er. Er müsse auch Schularbeiten machen. Das seien seine Schularbeiten. Ungehalten war er, wenn man "schon fertig" war und ihn störte.

In den Rechenstunden hob er zuweilen unvermitteln beide Arme; wie ein Priester. Aufspringen: Kopfrechnen, eine Seite gegen die andere. Da konnte man sich mal so richtig ausbrüllen. Als letzter blieb meist Blomert stehn. Der Blomert sei ein Saboteur der Arbeit, hieß es. Der müsse sich mal das Buch vornehmen und lernen das. "Werd doch Friseur!"

An der Tafel erklärte Hannes, daß es nun nicht mehr "ist", sondern "gleich" heiße. Wir seien ja schon groß.

Dies zu verdeutlichen, zeichnete er eine Waage und schrieb in die linke Schale zwei Einsen und in die rechte eine Zwei. Sie wögen gleichviel; was ich nicht einsehen konnte. Wichtig war ihm das KGV, das kleinste gemeinsame Vielfache. Wenn wir das nicht verstünden, dann kapierten wir auch alles Folgende nicht, bis hin zum Integral.

Klaus Greif, mein Nebenmann, hatte in Ordnung und Sauberkeit eine Eins. Er schrieb schöne vollrunde Zahlen. In jedes Kästchen eine. Nie unterstrich er die Ergebnisse "mit der Hand" wie Blomert das tat. Sein Füller war mit einer Pipette zu füllen, die Feder raus- und reinschraubbar. Damit schrieb er seine schönen Zahlen.

Er lieh mir ein Buch mit Zigarettebildern: Ruhmesblätter Deutscher Geschichte. Siegreicher Bajonettangriff der Kompanie Epp bei Onganjira am 9. April 1904. (Kamelreiter, die Hutkrempe an einer Seite hoch.) Und: Auf der Verfolgung der Simon-Copper-Hottentotten in der Wüste Kalahari.

Wen es zur Pause läutete, suchte er sich ein Opfer. Das nahm er in den Schwitzkasten und zerrte es zentaurenähnlich über den Flur. Manfred fragte, ob ich gesehen hätte, wie der den Blomert in den Kurven rumschleudere. Gräßlich, was? Der läge ja bald in der Waagerechten.

Manfred hatte einen Haro-Füller mit neuartiger Glasfeder. Die Kleckse, die er damit machte, stippte er mit einer Ecke des Löschblatts auf.

Vor mir saßen Struck und Stuhr; es war für die Lehrer mühevoll, sie auseinanderzuhalten.

Hinter mir Dicker Krahl. Er trug eine Taschenuhr mit Nickelkette. An dieser Kette hingen winzige Messer und Sägen, sein Vater war nämlich Fleischereibedarfshändler. In einer Lakritz-Tüte brachte er ausgestochene Kalbsaugen mit, die sollte Hannes untersuchen. "Sehr schon, mein Junge, leg das da man hin..."

In der Pause glühte er mit einem Brennglas Schnürsenkel an. Bei Fohmann gäb es Hitler sitzend. Der könne den Arm bewegen: "Sieg Heil!" Er habe Hitler jetzt doppelt. Ich kriegte von meinen Eltern immer nur Musiker, die gab es jetzt "im neuen Schritt".

Die Primaner durften auf dem Rosengarten promenieren. Die Lehrer reckten sich. "Wie die Tiere", sagte Hannes, wenn die Schüler grölten. Keiner merkte, was er durch Schnüffeln und Schnubbernn andeutete: Die Linden blühten, es roch nach Honig.

Im Kreis der 7 Linden, von denen die Schule ihren Namen hatte, tagte der Schüllerruderklub. "Wer fährt heute über?" wurde gefragt - da streckten einige ihren Daumen vor. Das bedeutete: Ich fahre heute über. (Auf die andere Seite der Warnow.)

Mein Bruder war von seinen Jachtklubfreunden umgeben.

In der himmelblauen kleinen Limousine
fährt das Glück, ein kleiner blonder Passagier...

https://www.youtube.com/watch?v=dQIoWL3Sg8Y

Bubi mit den gekräuselten Haaren, Heini im weißen Roll-kragenpullover und der vornehme Michael.

"Tadellöser & Wolff".

Mal sehn, was im Delphi anläge, vielleicht träfe er Marion, könne sein, daß die hier mal aufkreuze.

"Zatzig!"

Dann könnten sie ja mal einen wegmachen. Er gehe in die Veranda, Bubi könne das Herrenzimmer und Heini die Diele nehmen. Und Robert...

"Stüerman, lät mi an Land", sagte der.

Mich nannte sie Robert II. Was ich für einen komischen Pickel auf dem Hals hätte. "Oder ist das dein Kopf?"

Auf dem Heimweg schnallten wir uns den Tornister vor den Bauch und spielten Lok. Wer kann am schnellsten "Toni Leo"sagen? "Toni Leo, Toni Leo, Toni Leo..." Klaus Greif zog mit Blomert ab, den hatte er wie immer im Schwitzkasten. Hü! - Dicker Krahl fuhr auf seinem Rade stehend, "mein Moppe", wie er es nannte. Struck und Stuhr nahmen die Straßenbahn, die wohnten am Sportpalast. Ich warf mein Schulbrot in den Garten von Juwelier Dieken und machte, daß ich wegkam: Das Margarine-Gymnasium würde auch gleicch Schluß haben, und die Schüler hatten kahlgeschorene Köpfe..

Manchmal pfiff mein Bruder mich zurück.

Bei mir biste scheen...

"Hier, du Schleef, nimm mal meine Tasche und sag, ich komm' gleich." Er nähme es mir gut, wenn ich's täte. "Laß man, der Kleine iss ganz in Ordnung."

"Malsoweit!"

Hände waschen, Haare kämmen", wurde gerufen, wenn man in die Wohnung trat. Und dabei mußte man sich beeilen, denn: "Wer nicht kommt zur rechten Zeit, dem geht seine Mahlzeit queit."

Bei Tisch mußte dann der Schulbericht abgegeben werden. "Ansage mir frisch" Birnen, Bohnen und Speck. Ob die Duwe mit meiner Schwester wieder einen Pakt habe schließen wollen, und wie oft mein Bruder drangekommen sei.

Die Birnen hielten die Hitze, man wußte nicht, wie man den Stengel entfernen sollte. "Gib mal her, mein Peterpump." Ob er denn nun drangekommen sei oder nicht!?

Die harten Teile des Specks blieben einem zwischen den Zähnen stecken, das beengte sie.

Dr. Otterstedt habe nach der inneren Wahrheit gefragt, sagte mein Bruder.

Nach der inneren Wahrheit?

Ja, nach der inneren Wahrheit.

Der war im Krieg schwer verwundet worden, Zweihundertvierzehner, hatte oft starke Schmerzen.

"Aber tadellose Anzüge", sagte mein Bruder.

"Ja, gut dem Dinge. Klare Sache und damit hopp!"

Dr. Wolff sähe ja immer verboten aus, der kaufe bestimmt im Ausverkauf, die Taschen so ausgebeult und die Knie. "Faulmannsdörfter & Jennsen."

Der trage ja sogar Knikerbocker in der Schuhe, "wie isses bloß möglich. Daß da die Frau nicht drauf achtet." Total verbumfeit.

Dann müsse er sich auch nicht wundern, wenn er keine Disziplin halten kann.

Ob du's kannst - glaub's schon,
ob du's darfst - frakt sick.

Was für ein blöder Spruch.

"jija- jija."

Aus der Zeit der Wirtschaftskrise hatte sich eine "Fliegensuppe" erhalten, die gab es jede Woche. Wassergrieß mit einer Handvoll Rosinen. "Sauer eingekochter Greis." Meine Mutter schöpfte sie aus einer Terrine und gab acht, daß mien Vater ("typisch!") nicht die Zitronenschale bekam.

Wieviel der München-Riem denn nun wirklich koste, wollte er wissen. Ich solle mich mal erkundigen.



Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 5. Kapitel














 
 
 





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