Friday 2 January 2015

KAPITEL 1

Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?). Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie der damals explodierte.

Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.

Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelt hatte. Den gelben Onkel nahm man mit, mit dem gab es ab und zu "hau-hau"! Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft. Vom Balkon eine Aussicht - wonnig. Und keine Öfen zu heizen, das war auch was wert.

Als ich aus der Schule kam, sah ich schon von weitem den ausgepolsterten Möbelwagen, die Pferde mit rostroten Planen über dem Rücken und Messingschildern am Zaum.

Wir waren selbstverständlich bei Bohrmann. Der Flügel stand noch drinnen, ich hatte also nichts verpaßt, Die Träger mit Gurten um den Leib, Haken unten dran. Sie schraubten die Beine ab; in einem Schlitten hievten sie ihn die Treppen hinauf. Sieben Zentner schwer. Die Adern quollen ihnen aus.

"Kinder", sagte meine Mutter, "wie isses nun bloß möglich..."

Ob in der Nachbarschaft nicht'n paar kräftige Männer aufzutreiben wären, wurde gefragt.

Ein Dicker Herr schob sich an den Trägern vobei, er sah versonen das Treppenhaus hinauf. Da oben kam Licht aus einem Rubbelglasfenster. Dieser Mann hieß Quade, der hatte das Haus gebaut.

Es war eine geräumige Wohnung, allerdings: 2. Stock, wie Tante Silbi von Anfang an bemerkte. Die Garderobe ganz im Rot. über der Eichentruhe schon die Schießscheiben und der Säbel meines Vaters. ("Der wird dann angeschliffen, Junge.")

Rechts der offne Schrank mit den Wolffschen Telegraphenberichhten und - "Giftfische und Fischgifte" - zahlosen Kosmobändchen.

Mein Bruder recke sich vor dem Spiegel. Die Wohnung sie Gutmannsdörfer. Ob ich das nicht auch fände?

"Ja."

"Na, denn sei froh."

Für sämtliche Zimmer waren neue Lampen gekauft worden. Im Wohnzimmer hielten Adlerkrallen die Leuchtschalen. In den Schlafzimmer floß das Licht durch Alabaster. Im Eßzimmer hing eine Klingel vom ausufernden Papierschirm herab, damit sollte das Mädchen dann gerufen werden.

Für die Küche wurde keine Lampe gekauft, da war schon eine drin.

Kröhl, ein pensionierter Finanzbeamter, brachte die Lampen an. Er spielte im Quartett die Bratsche (Geiger gäb's wie Sand am Meer), der machte sich gen nützlich.

"Würdest du bitte mal knipsen? Den unteren Schalter? Danke." Als er noch im Amt war, hatte er mal zu meinem Vater gesagt: "Das ist natürlich wieder alles falsch.."

"Wieso natürlich?" hatte mein Vater geschrien. "Und wieso wieder und alles?"

Daß die Küche nicht gefliest war, komme ihr grade recht, sagte meine Mutter. Fliesen seien so kalt von unten.

In den Waschbecken sprang das Wasser wie ein Quell aus einem Loch. Der Schließer war durch Druckknopft zu betätigen. "Fabelhaft".

Die Fenster der Wohnung gingen leider alle nach innen auf.

"Das werden wir schon kriegen", sagte meine Mutter. Aber die Blumentöpfe mußte sie doch jedesmal rükken.

Genau gegenüber der Schlachter mit einem aus Talg geformten Adler im Fenster und Rosen aus Speck. Daneben der Drogist. Alles in der Nähe, fein. Um die Ecke "Wiener Moden".

Auf der Kreuzung brachten sie grade ein neues Verkehrszeichen an, "STOP" stand da drauf.

Ein geräumiger Balkon mit Glasdach und Mauervorsprüngen zum Aufstellen von Judenbart und Schlagenkaktus. Noch waren die Bäume unbelaubt, aber es würde ein schöner Blick sein, über die blühenden Gärten hin zum grünen von St. Jakobi.

"Kinder, wie isses schön", sagte meine Mutter, "nein, wie isses schön", und drückte sie Geranien fest.

Linker Hand, neben einem gelb gestrichenen Etagenhaus, an dessen zerklüfteter Rückseite eine Anzahl Eisenbalkons mit Margarinenkisten voll Schnittlauch hingen, konnte man sogar den kleinen Turm der katholischen Kirche ausmachen, mit dem so kräftigen Geläut.

Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbocker in Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der roten Garderobenhaken.

Wie so saft ruhn,
alle die Toten...

http://ingeb.org/spiritua/wiesieso.html
https://www.youtube.com/watch?v=fPr8306hr5o

Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte. "Ich werd's Ihnen lohnen im späteren Leben", sagte er zu Kröhl und gab ihm die Hand, "einstweilen besten Dank". Er betrachtete die Lampen: "Das ist natürlich wieder alles falsch.."

Dann setzte er sich an den Flügel, lehnte sich zurück und spielte:

Singt dem großen Bassa Lieder...
https://www.youtube.com/watch?v=xsNkli1DCJI

Pink-pink! - ja, es ging.

über dem Instrument ging das Hafenbild mit dem dicken Goldrahmen, ein Hochzeitsgeschenk von Konsul Discher. Es sei nicht billig gewesen, hieß es.

Meine Schwester Ulla ("Was hasst du nur für schöne Zöpfe, mein Kind") sieben Jahre älter als ich, bekam die Dachkammer.

"Wahrschau"" rief sie und brachte Vasen nach oben. Sie trug ein rostfarbenes Wollkleid mit quer eingestickten Blumengirlanden.

Ich teilte mit meinem Bruder Robert das Zimmer. Sechs Jahre älter als ich. Das blonde Haar stark gewellt, wie die Wogen des Sees Genezareth, in der Bilderbibel, auf denen Jesus wandelt. Er behauptete, von mir gehe ein "pestilenzialischer Gestank" aus.

Er schnurkste ständig, so als zöge er von Zeit zu Zeit sein Uhrwerk auf. Meine Mutter sagte dann: "Prost! Wisstu'n Stück Brot?" Gern trug er Querbinder. Die band er mit Geduld. Hinterher reckte er sich noch ein Weilchen, als wollte er sagen: "Ich bin doch eigentlich recht staatsch"."Na, du Schleef?", sagte er, wenn wir uns auf dem Korridor begegneten.

Meine Mutter stammte, wie sie behauptete, aus einem alten Hugenottengeschlecht, de Bonsac. Im 16. Jahrhundert geadelt. Der Vorfahr habe als Mundschenk guten von schlechtem Wein rasch unterscheiden können. Es war noch ein Wappen auf die Familie überkommen, das hing jetzt in Wandsbek, in das war eingeschnitzt.

Bonum bono, dem Guten das Gute.

Und auf dem Wappen Kelch und Traube.

Beim Gutenachtsagen legte sie mir die Hand auf die Stirn. ("Sieht sie nicht aus wie eine Gräfin?") Dann sprach sie lange Gebete, bei denen sich ihre Augen allmähnlich mit Tränen füllten.

"Oh, lieber Gott, sieh an, wie wir ohnmächtig sind vor Dir, sei barmherzig, holf uns in allen Nöten des Leibes und Lebens, daß das Gute in uns aufkomme, und mach uns zu Deinen Kindern. Hilf allen Menschen durch Deine allmächtige, alles er-, ver-, ver- veranlassende, verordnende, Güte..." und so weiter.

Das dauerte oft recht lange, und ich suchte durch Strecken und Dehnen anzudeuten, daß es nun genug sei. Dann sang sie:

Müde bin ich, geh' zur Ruh"...

Alle vier Strophen. Sie hatte eine schöne Stimme. Zum Schluß beugte sie sich auf mich herab, und ich durfte sie küssen. "Aber nicht auf den Mund". Wenn mein Vater die Abendpost durchgesehen hatte - "Tadellöser & Wolff!" - spielte er meist noch lange Klavier. Das konnte ich bei offner Tür gut hören.

Das "Frühlingsrauschen" von Sinding oder die Davidsbündler Tanze. "Mit Humor und etwas handbüchen."

https://www.youtube.com/watch?v=T2m_eqBQ10k

In die Tür unseres Zimmers waren geriefelte Glasscheiben eingesetzt. Wenn man von vorn in den Korridor einbog, sah man sofort, ob ich verbotenerweise noch las. ("Kai aus der Kiste.") Den Finger hatte ich, in angespanntester Aufmerksamkeit, ständig auf dem Knipser. Die Mutter konnte mich nie erwischen. "Auf Ehre?"

Mein Bruder Robert aber, der sich zeitweilig am Anschleichen beteiligte, war gewiefter, der faßte die Glühbirne an. "Sag mal, schämst du dich nicht?"

Er selbst las bis zum frühen Morgen. Lok Myler: "Der Mann, der vom Himmel fiel".

Morgens kam er schwer hoch. ("Uppstahneque!") Und er hatte doch Fensterwache! Für meinen abergläubischen Vater mußte er nach jungen Mädchen Ausschau halten.

"Los, Vater, komm schnell!"

Der kam dann gebückt gelaufen, so als könne er sich nicht aufrichten, halb rasiert, mit hängender Hose und schlappenden Pantoffeln.

"Gut dem Dinge", nun konnte ihm keine alte Frau mehr den Tag verderben.

Das Frühstück war immer sehr harmonisch.

"Was macht meine Haut?", fragte mein Vater und hielt uns den Hals hin. Bei Ypern hatte er Gas abgekriegt. "Wunderbar", mußten wir dann sagen, "keinerlei Druck oder Schelberstellen", sonst wäre der ganze Tag im Eimer gewesen.

Dem zuletzt Kommenden wurde: "Ah! Die Sonne geht auf!" zugerufen. Der mußte dann lange nach seinen Brötchen suchen, die - heiß! kalt" - irgendwo verteckt waren (meistens auf dem Schoß meiner Mutter).

"Wer nicht kommt zur rechten Zeit,
dem geht seine Mahlzeit queit."

Neben dem Teller meines Vaters lag das Kalenderblatt. "Meyers historisch geographischer Kalender.", mit den Nationalen Gedenktagen.

1916 - Erstümung von Fort Douaumont.

Für mich, der ich am Ende der Tafel saß, hatte er harmlose Scherze bereit.

Was "Kohlöppvehnah" heiße, "ansage mir frisch!"

"Die Kuh läuft dem Vieh nach", mußte ich dann antworten. Daraufhin wurde "gut dem Dinge" gesagt.

Mein Vater kaufte sich ein neues Rad. Das alte, mit Dorn zum Hintenaufsteigen, war verrostet. Dazu einen Kleppermantel, dessen Schöße hochknöpfbar waren. "Denn seh' ich ja aus wie ein Franzmann", sagte er.

Meine Mutter ließ alle Sessel neu beziehen, die alten Samtbezüge könne sie nicht mehr sehn.

Für den Balkon - "nein, diese Aussicht!" - kaufte sie Stühle aus Peddigrohr.

Bei Tillich, den "Wiener Moden", ließ sie sich ein Kleid machen, ein hellblaues. Das Oberteil war wie eine Pelerine geschnitten, mit drei Knöpfen auf der Brust. Von denen gingen Quetschfalten aus in alle Richtungen.

Ich kriegte einen sogenannten Hamburger Anzug, dessen Oberteil an die Hose geknöpft wurde.

Meine beiden Geschwister durften in den Jachtklub eintreten, aber weißes Zeug wurde nicht genehmigt. In den Ruderklub hatten sie nicht gehen wollen. Sie seien doch keine Galeerensklaven. Wenn Ulla ein Schifferklavier gehabt hätte, dann hätte sie uns sicher, wie Robert meinte, mit Schlagern geelendet. Auf der Mundharmonika spielte sie:

An der Saale hellem Strande
stehen Brurgen stolz und kühn...

Sie stiftete meinen Bruder zu Untaten an. Wenn es rauskam, gab's Stubenarrest.

Er sei kein richtiger Junge, meinte sie. Richtige Jungen kämen mit zerschundenen Knien und Löchern in der Hose nach Hause. Die stiegen über jeden Zaun.

"Würdest du mir mal bitte verraten, über welchen Zaun ich eigentlich steigen soll?", fragte Robert.

Seitdem sie segelten, war mien Vater des öfteren genötigt, mit der Uhr in der Hand auf der Treppe zu stehen.

"Wo kommt ihr jetzt her?"

Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen.

Ulla kriegte außerdem eine Reitkarte. Im Tattersall durfte sie für 5 Mark die Stunde um die Manege traben. In Trainingshosen, zu ihrem Kummer. Kati Rupp habeaber ein Reitkostüm, klagte sie.

"Denn mußt du dir 'n andern Vater aussuchen, ich kann mir das Geld auch nicht aus 'n Rippen schneiden".

Aus dem Schatten der Tribüne heraus beobachteten wir sie. Wenn das Pferd pupte, lachte mein Vater.

Auf einer Veranstaltung kniete sie im Sattel. Das sei eine ziemliche Angstpartie gewesen, sagte sie hinterher, ihr sei ganz schwummerig geworden.

Einmal kriegte sie einen Steigbügel vor die Stirn.

"Kommt da dein Vogel raus?", fragte Robert, als sie mit dem Horn erschien.

Mit ihrer Agfa-Box machte sie Pferdeaufnahmen. Die kamen ins Album.

"Der gute Kamerad", wurde druntergeschrieben.

Die ganze Familie wurde fotografiert. Die Mutter im Pelerinenkleid, Robert beim Segeln und ich im Hamburger Anzug. Vater sogar als SA-Mann unter einer Birke.


Tadellöser und Wolff. Walter Kempowski. Kapitel 1


http://www.fernandezbaladron.com/

















 




















 





 

No comments:

Post a Comment