Tuesday 6 January 2015

KAPITEL 3

Mein Vater "liebte seine Heimatstadt", wie immer gesagt wurde. Er war Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer und besuchte dessen Vorträge regelmäßig: "Die Exerzitien der Bürgergarde" oder "Rostocks Soldaten im 30jährigen Kriege".

Mit Platt sei er in Flandern ganz gut zurechtgekommen.

Sonntags, während meine Mutter den Braten begoß, ging er mit uns spazieren. Die rechte Hand auf dem Rücken, mit der linken den Spazierstock führend, mal nach vorn und mal nach hinten. Da er viele Leute kannte, zog er dauernd den Hut.

Mit Kaufleuten redete er über Courtage, Tons und Dividende; zu Damen sagte er "Meine Gnädigste" und küßte ihnen die Hand. Er selbst wurde mit "Herr Kempowski" angeredet oder mit "Körling". Wir standen inzwischen am Rinnstein und kuckten, ob wir an den Gitterfenstern des Gefängnisses nicht vielleicht ein bleiches Gesicht ausmachen könnten.

"Nehmen Sie mich mit, Herr Kempowski", rief auf der anderen Straßenseite ein winkender Mann mit Hasenscharte. Das war Dr. Heuer.

"Auch das noch", sagte mein Vater. "Na, wie geht's?"

Einmal wurde er von einem betrunkenen Seemann angesprochen. Da behielt er seinen Handschuh an. "Man weiß nie, was diese Leute angefaßt haben", sagte er. Als junger Mann hatte er einmal einen Kapitän im Bordell auslösen müssen, dem hatten sie die Hosen ausgezogen, weil er nicht bezahlen konnte.

Von Rostock sagten die Leute, es sei zwar weniger als Lübeck und Hamburg, aber mehr als Wismar und Stralsund. Eine Stadt, die seit Jahrhunderten von schlechten Baumeistern verhunzt wurde. Wunderbar, daß ie trotz allem noch gewisse Reize hatte. Das Steintor zum Beispiel, in dem es nach Männerpisse stank: Wenn die Straßenbahn da durchfuhr, mußte sich der Stromabnehmer quetschen. "Wie die Soldten hier wohl früher die Zugbrücke runtergeknallt haben".

Oder das Kröpeliner Tor, von einem Gotiker mit Türmen und Bögen versehen und mit Bänken, auf denen alte Männer Skat spielten. "Un ick har doch dat Aß speelen möst...", die Pfeife mit einem Gummiring vor dem Herausfallen aus dem zahnlosen Mund bewahrt. Daneben, eingebettet in das Gebüsch der Wallanlagen, ein Wanderknabe aus Granit, ein liegender Goethe in Italien etwa, aber ländlicher.

Die Türme der Kirchen waren entweder zu groß oder zu klein.

Die klotzige Marienkirche, ein Bau-Ungetüm mit gewaltigem Westwerk, groß genug, um drei Türme zu tragen, oben rasch und behelfmäßig mit einem hühnerkopfähnlichen Helmchen abgeschlossen.

"Wie eine Glucke mit ihren Küchlein". Und St. Petri, eine Kriche, die fast nur aus Turm bestand. Heute könnten die Leute sowas nicht mehr bauen, wurde behauptet. Über die Zusammensetzung des Mörtels gingen wunderliche Gerüchte um.

In der Hauptpost leerte mein Vater das Schließfach 210. 201, das war seine Regimentsnummer gewesen. ("Helden wollt Ihr sein?")

Er sah die Briefe flüchtig durch - "allerhandlei" - und stopfte sie in die Tasche.

Die gotische Hauptpost lag am Rosengarten, einem Überrest der Wallanlagen. Früher führte ein schräger Weg dahin. Als der aufgehoben wurde, stiegen die Leute unter Protest über die Absprerrungen.

Neben der Hauptpost stand das Kriegerdenkmal der goer. Dort zeigte er uns die Namen "Pingel" und "Topp", die sonderbarerweise direkt untereinander standen.

"Hurrah!" hätten die Senegal-Neger gerufen. Und Flieger, die wären am ekelhaftesten. Da könne man nicht weglaufen.

Ob er mal Feinde totgeschossen habe?

Nicht daß er wüßte, er habe immer nur so ungefähr in die Richtung gehalten. Das seien dann so schwarze Punkte.

Vom Kriegerdenkmal, über den Wall zum Hafen runter, ob noch Schiffe eingetroffen sind. Den befreundeten einen kurzen Besuch abstatten, "Brennevin". Die feindlichen flüchtig mustern.

"Käpt'n" durfte man nicht sagen und nicht "Pott" oder "Kasten".

Neben dem klassizistischen Mönchentor - über dem Torbogen ein Löwenkopf mit offnem Maul und auf dem Dach eine Art Schüssel aus Bronze - lag unser Geschäftshaus. Auf Ansichtskarten war ein Stück davon zu sehn. Früher war es eine Kneipe gewesen, der Bierkeller mit Falltür war noch vorhanden.

Mein Vater ging ins Kontor und telefonierte. Courtage, Tons und Dividenden. Wir drehten inzwischen an der Kopierpresse. "Du wirst lachen", sagte mein Bruder, "das Ding funktioniert noch immer. Halt mal'n Daumen drunter".

Auf dem Schreibtisch des Prokuristen ein Pflasterstein als Briefbeschwerer. An der Wand: Hitler, Hinderburg und Bismarck übereinander.

Dan ging es die Mönchenstraße hinauf, Richtung Neuer Markt. An den Straßenecken Kanonenrohre, damit die Häuser von den Fuhrwerken nicht beschädigt würden.

"Hier hat Fritz Reuter mal gewohnt".

Häuser und Schuppen ineinander verschachtelt. Auf den flachen Teerdächern Zäune, Wäschepfähle und hohe Blechschornsteine.

"Erste Vakuum-Dampf-Zucker- und Bonbonwarenfabrik", stand abgeblättert und verwaschen an einer Mauer.

In den Fenstern zu ebener Erde Kakteenschalen mit kleinen Pagoden und Brücken. Kneipen: Kum rin, kannst rutkieken. Hin und wieder ein schöner Treppengiebel mit Speicherluken und Rollen. Aber die Fotografen hatten zu zirkeln, wollten sie die auf die Platte bekommen.

Auf dem Neuen Markt wurde die Stelle gezeigt, wo früher mal ein Brunnen gestanden hatte, und unter dem Rathaus, an einem Pfeiler, eine kleine Schlange, deren Herkunft und Zweck unerfindlich war.

Um 12 Uhr war Platzkonzert. Das fand am Denkmal Friedrich Franz III statt, unter der Eiche von 70/71. Väter mit Kleinkindern auf den Schultern. Der Stabsmusikmeister hinkte. Er schnauzte die Zuhörer an, wen sie drängten. Ouverture zur Diebischen Elster. "Mensch, blasen Sie fis!"

Ich kuckte mir die Zugposaunen an, die stets anders gezogen wurden, als man meinte, daß sie gezogen werden müßten. Der Oboist, ein Gefreiter, hatte Watte in den Ohren.

War abgeklopft, dann packten die Soldaten ihre Instrumente ein und fuhren mit der Straßenbahn in die Kaserne zurück.

Auf dem Nachhauseweg hielten wir nach "Typen" Ausschau, Naturmensch Herbig etwa, der, wie es hieß, sonntangs mit einer Geige im Rucksack nach Kösterbek spurtete. "Das ist auch so eine Existenz".

Oder Professor Totenhals, der sich immer die Ohren zuhielt, wenn er über die Straße ging.

Einmal kam uns ein Mann entgegen, der ging recht gebückt. Warum der wohl so gehe, fragten wir.

"Dem haben seine Söhne so viel Kummer gemacht", sagte mein Vater.

Im Treppenhaus roch es bereits nach Braten, und wenn die Etagentür aufgeschlossen war, hörte man das Silber klirren.

"Malsoweit!"

"Schön, daß ihr kommt, ich wollte grade aufgeben."


Tadellöser & Wollff - Walter Kempowski - 3. Kapitel.






http://www.fernandezbaladron.com/

No comments:

Post a Comment