Thursday 8 January 2015

KAPITEL 4

Sonntags gab es Puddings in Form von Trauben. Meine Schwester bestand noch mit ihren 16 Jahren darauf, von den Beeren und nicht vom Laub zu bekommen: Heißen Dung!

Nach Tisch wurde gedankt, das besorgte meine Mutter. Mein Vater sagte: "Amin-Amehn" und drückte mehrmals kräftig an den Tisch.

"Gott, Karl..."
"Was ist?"

Er erhob sich und lief gebückt zur Anrichte. Da stand die Keksdose, aus der er sich mit "Rollgriff" reichlich bediente. Das vers-tünde sie nicht, sagte meine Mutter, er habe doch nun eben gut und reichlich gegessen?

"Rede nicht, Weib!" Kekse füllten die letzten Risse und Schründen des Magens, und er zählte sie sich in den Mund.

Wir machten, daß wir ins Kino kamen. Dick und Doof als Elektrohändler. Mein Bruder immer ein paar Schritte voraus. Ulla packte mich im Genick und drehte mir den Kopf nach links oder rechts, je nachdem wo es langgehen sollte. Eile war nötig, denn zuvor mußte das Geld beim Großvater erbettelt werden.

Mein Großvater hatte sein Haus in der Steintorvorstadt zwischen den mit lachenden und weinenden Masken verzierten Villen von Konsul Böttcher und Konsul Viehbrock.

Lieferanten bitte den hinteren Eingang benutzen. Für seinen Rollstuhl wurde eine schiefe Ebene auf die Treppen gelegt.

Das Haus war sehr geräumig, zwei Etagen, alles Riesenzimmer, früher waren hier Feste gefeiert worden. Im Entrée eine Mahagoni-Vitrine mit Porzellan. Eine goldene Tasse, aus der die Königin Luise mal getrunken habe. Aber auch der kleine Stierbändiger aus Kopenhagener. Neben der Vitrine der Hocker mit dem Katheter. Nach den kleinen Rostocker Aquarellen kam der Museumdirektor gelegentlich fragen.

Der alte Mann saß im Erker und las. Eine Steinhägerflasche mit warmem Wasser auf dem Bauch. ("Der gute Alte".) Gingen Bekannte draußen vorbei, grüßte er sie freundlich und murmelte: "Du bist ok so'n oll'Morslock."

Wir stellten uns vor ihn hin. Er riß die Seite des Buches ein und klappte sie als Lesezeichen aus. Die letzten Tage von Pompeji. Dann kratzte er uns Volkslieder auf seiner Violine vor und erzählte ostpreußische Witze, wobei ihm das Gebiß herunterklappte. (Wir hatten Angst, daß wir sie nicht kapierten, und lachten viel zu früh.) In jüngeren Jahren habe er mal Ascheimer umgestoßen, deshalb sei er jetzt gelähmt. Dann nahm er seinen ausgekauten Priem aus dem Mund, mein Bruder, der Schnetzfink, der mußte die Hand hinhalten.

"Großvater, wir müssen nu gehn."
"Na, denn giv mi ma mine Tasch..."

Mit kraftlosen Fingern öffnete er die Ziehharmonika-Börse und grabbelte die Münzen.

"Ist das noog?" sage er und legte 5 fenig auf die Lehe seines Stuhls, als hätte er sie noch nie gesehen.

"Nee, Großvater."

"Dunnre di Düwel nich noch eins..." und wieder legte er eine Münze hin. Manchmal auch eine Fischschuppe, die er zu Sylvester ins Portemonnaie getan hatte, damit es nie leer wird.

War es "noog", dann griffen wir das Geld und rasten los. Die Treppen runterspringen, die Türen schmeißen. "Wetten, daß wir es nicht schaffen?"
"Darauf gebe ich dir Brief und Siegel."

Der Alte stieß mit dem Krückstock gegen das Fenster und schüttelte die Faust. "Petri fief, fief!"

(Das war eine Bibelstelle, fünftes Kapitel Petri, fünfter Vers: "Ihr Jungen, seid untertan den Ältesten...")

Wir schafften es immer. Wenige Minuten vor 2 erreichten wir die Ka-Li-Sonne, ein Kino, dem ein Tanzsaal angeschlossen war. "Swings tanzen verboten", stand auf einem Schild.

Kindergewühl. Es gongte und der Vorhang färbte sich grün, rot und orange. Unter dem schrillen Pfeifen der Kinder schütteten Stan Laurel und Oliver Hardy einem Lebensmittelhändler Eier über den Kopf. Und der ließ ihnen dafür die Taschenuhren durch die Zentrifuge laufen.

Neben Robert saß man das eben gesehen habe, ja? Hinterher hieß es, der Film sei epochal gewesen oder "prachtach".

Einmal gab es den Film "Morgenrot" mit Adele Sandrock. Das war ein Reinfall. Wir wollten immer lachen, aber da gab es nichts zu lachen.

Nach dem Kino ging es ins Lesecafé. Dort saßen Freunde vom Jachtklub.

Juden ungewünscht!

Heini, mit dem weißen Rollkragenpullover, Kupfermünzen am Uhrarmband, wahnsinnig kräftig; Michael, mit den hochschnüffelnden,, gelangweilten Allüren, dessen Vater, wie man sagte, einen echten Rembrandt hängen habe, völlig schwarz, nichts drauf zu sehn; und Bubi, ein "richtiger Junge", wie meine Schwester sagte. Bald würde wieder Ansegeln sein.

Er habe eine grauenhafte Entdeckung gemacht, sagte mein Bruder und klopfte die Taschen ab: Nichts mehr zu rauchen!

R 6, doppelt fermentiert, eine Ghiros klassisch manipulierten Pastals.

Ob ich die leere Schachtel kriegen könnte? fragte ich. Ich sei wohl vom Wahnsinn umjubelt? Ich sollte meine Sabbel halten und mich verdünnisieren.

In den Vorgärten abgeblühte Schneeglöckchen, Buchsbaum an Wegen, die niemand ging, rostige Eisenzäune, ein pinkelnder Hund.

Das Anstellen von Fahrrädern ist verboten.

Zeigte sich in der Ferne ein Junge, dann wurden Umwege gemacht. Über den Unterwall, auf dem die Bänke noch nicht angebracht waren. Durch die Schröderstraße, an der brüchigen Mauer einer Konservenfabrik entlang. Am Kellerfenster des Töpfers Wernike vorüber, in dem Öfen standen und ein grüner Uhu aus Steingut. Den kaufe er eines Tages und schmeiße ihn kaputt, sagte mein Bruder jedesmal, wenn er daran vorbeiging.

Ob im Wald, ob in der Klause,
Dr. Krauses Sonnenbrause.

Die Fabik war geschlossen, das Tor mit einer Kette gesichert. Im Treppenhaus das Minutenlicht: klickte. Ute war wieder mal bei ihren Großeltern.

Den Schlüssel zu unserer Wohnung entnahm ich vorsichtig der Milchklappe. Zum Aufschließen brauchte man erchien meine Mutter mit dem Kissenmuster auf der Backe: "Überschrift: die Mittagsruhe!"

Und dann erwachte womöglich auch der Vater: "Rotzlöffel!" In der Garderobe hing sein Teichhut. Daneben der Hut meiner Mutter, mit dem imitierten Vogel dran, der ständig vor ihrer Nase zu Boden zu stürzen schien.

Im Schirmständer Spazierstöcke: Einer, wie ein sonderbarer Regenschirm, zum Aufklappen und Draufsitzen.

Ich strich durch die Wohnung. Auf der Standuhr hat sich beim Umzug ein Pantoffel gefunden, den man vor Jahren vergeblich gesucht hatte. Die angeklebten Birnen am Büfett, in dem Kristall und eine Meißner Schale standen. Der Teppichsaum, den man als Straße für Mäklinautos benutzen konnte.

Wenn man Glück hatte, war noch Märchenstunde im Graetz. "Lasse, mein Knecht!" Meist aber nur: Sinfonische Dichtung von Sibelius. Im Bücherschrank links Luther und die Geschichte des Rauhen Hauses. In der Mitte Wiechert, Hesse und Ruth Schaumann. Aber auch die "Buddenbrooks" und "Professor Unrat" ("traun fürwahr"). Ganz unten Kunstbücher mit den unvergänglichen Werken großer Meister. Ich hatte sie mit Zettelchen versehen, damit ich nicht auf die Kreuzigungsbilder stieße. Judith mit den Haupt des Holofernes. Im rechten Schrank die Regimentsgeschichten; Chamberlain,, Stegemann und Lilly Graun.

Ans Notenregal brauchte man sich nicht zu machen. So verlockend die Einbände auch aussahen: Flöten und Geigen von Blumen umkränzt, drinnen herrschte die von großen Bogen zusammengehaltene Geheimschrift der Klavierspieler vor.

Auf dem Schreibtisch eine Intarsienmappe mit französischem Kalendarium. Aus der fielen einem sämtliche Briefe entgegen. Und die Zigarrenprospekt der Firma Loeser & Wolff. Mit Hilfe dieser Prospekte wählte mein Vater aus, welche Zigarren nur für ihn, auch nur für ihn und welche für Lieferanten zu bestellen waren.

Unten im Schreibtisch ein Kasten mit Fotos. Dicke braune meines Großvaters:

Den lieben Eltern zur Goldenen Hochzeit 1905, aber aucch dünnere neueren Datums, mit Büttenrand, von fröhlichem Picknick: Weinflaschen auf ausgebreiteter Decke. Der Hund sei in die Butter getreten, wurde erzählt. (Meine Mutter mit Herrenschnitt.)

"Mit de Pierd will'n Se noch na Rostock?"

Landkarten von Flandern. Die nahm mein Vater gern mit auf das Klo, um "die Lage zu klären", wie er sagte.

Leise, leise, fromme Weise...

"Meinen ersten Patrouillengang habe ich auch schon hinter mir", hatte er geschrieben, "meine Uniform sah hinterher aber aus! In einem Wassergraben bin ich entlanggehangen..."  Er liebte es nicht, wenn man eben vor ihm aus dem Klo herauskam. Dann war die Brille noch warm.

Nach dem Kaffee kam gewöhnlich Manfred, ein stiller Schulfreund. Einer mit Nickelbrille, der immer Käsebrote aß.

"Rothaarig, nicht?", sagte mein Bruder.

Er müsse erst seine Eltern fragen, ob er mit mir spielen dürfte, hatte er gesagt, als ich ihn zum ersten Mal einlud; er wisse ja gar nicht, was wir für Leute seien.

Seine Haut war dick und voller Sommersprossen; er konnte Nadeln hineinstecken, ohne was zu merken. Von einem Onkel hatte er Zinnfiguren geerbt: Azteken und Spanier, erstklassig bemalt. Sie lagen in Zigarettenschachteln, eine neben der andern. Jaguarkrieger und Langschwertkämpfer, Fußvolk im Sturm und fliehend, Sonnenradträger; Fallende, Tote. Meine Mutter, die die Figuren weit von sich hielt, meinte, die Azteken, das seien Leute gewesen, die gar kein richtiges Kinn gehabt hätten, ein Volk mit so Vogelköpfen. In der Volksbücherei hatte sich Manfred ein Buch geliehen: "Die Eroberung Mexikos".

"Halte mich sauber", spricht das Buch.

Das war illustriert. Steinerne, unendlich in sich verschlungene Gottheiten. Stufenpyramiden, mt der Sonne zugewandten Tempeln. Kolorierte Herzen im Schlund des Gottes Quetzalcoatl. Blutverkrustete Priester mit Obsindianklingen vor den sich aufbäumenden Opfern.

Hutzilopochtli, das war ein schwieriger Name. Als ich ihn endlich aussprechen konnte, wunderte ich mich darüber, daß sich niemand darüber wunderte.

Schwerverbrecher hatte man an ein hölzernes Gestell gebunden und ihnen die Gesichtshaut abgezogen, um die Raubvögel anzulocken.

Er kämpfe morgens immer mit seinen Kissen, sagte Manfred. Er boxe sie und reite auf ihnen. Vom Plumeau lasse er sich besiegen.

Wenn wir ungestört waren, führten wir Stücke auf. "Wie du mir, so ich dir", hieß eines. Er lag als Cortez auf der Couch und trat nach mir. Ich hatte die Ketten abzuschütteln, mich auf ihn zu werfen. "Freiheit" zu rufen und ihnauf aztekische Weise zu fesseln. ("Zieh doch fester an"") Dann mußte ich höhnisch rufen: "Wie du mir, so ich dir!" Beim ersten Mal meinte er: "Wie du mir, so ich dir" - er glaube, er könne diesen Hohn nicht ertragen. Aber, wir wollten es ruhig mal versuchen, er sei direkt neugierig, ob er's aushalte.

"Wie - du - mir...": Jedes einzelne Wort schien ihn zu vernichten.

O Gott nein, er halte es nicht aus, sagte er und rollte mit den Augen, das sei wirklich schwer zu ertragen, dieser Hohn! Aber ich solle trotzdem mal ganz behutsam weitersprechen. Er sei neugierig, ob er's schaffe.

Dann mußte ich ihm mit einem Lineal auf die Schenkel schlagen, leicht, locker, bis sie sich röteten und immer roter wurden. Ob's noch gehe? fragte ich. Ja, mach weiter, weiter.

Endlich wollte er unter das Bett geschoben werden. Ich mußte ihm Brot nachwerfen, das er mitden Zähnen griff. Der Gedanke, ich ginge womöglich fort und ließe ihn da allein, sei entsetzlich, sagte er. Ich sollte mal bis zur Tür gehn. ob er das wohl aushalte?

Einmal drückte ich ihn in die Besenkammer und schloß die Tür. Ich holte den gelben Onkel aus der Garderobe und schlug mehrmals kurz und kräftig hinein. Der blecherne Aufnehmer schepperte, und der Mop fiel herunter. Das sei ja grauenhaft, rief er. Wie ich denn auf die Idee gekommen sei? Das überrasche ihn aber sehr!

"Na, Huitziloportlo?", sagte meine Schwester beim Abendbrot. "Du glühst ja so."

Er gebe ihr Brief und Siegel, sagte mein Bruder, daß wir wieder getobt hätten. Ich wär 'ne Geißel der Menschheit. Aber, daßdie Azteken Vogelköpfte gehabt hätten, verweise er in das Reich der Fabel.

Was Kohlöppvehna heiße, wollte mein Vater von mir wissen und: Urselchen, mein Kind, mach doch nochmal den Mecklenbruger Büffelskopf nach."

Die Lebenswurst schmecke übrigens hervorragend.




Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 4. Kapitel

 


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