Friday 9 January 2015

KAPITEL 5

Als wir dann zur Oberschule kamen, holte Manfred mich jeden Morgen ab. Gewöhnlich saßen wir schon alle am Frühstückstisch, wenn es klingelte. ("Was macht meine Haut?") Das dicke Bunzlau mit der bunten Kaffeekanne, auf dem Pfingstmarkt gekauft. Jeder hatte sein eigenes Gedeck, die andern waren "giftig".

"Iss Waller da?", fragte Manfred draußen.
"Das wid er woll", antwortete das Mädchen und ließ ihn herein.

Während ich meine zwei Brötchen mit Butter bestrich - mein Vater grabbelte sich stets die krossesten - saß Manfred in einer Nische, die durch das Treppenhaus, das Baumeister Quade vom Eßzimmer abgezweigt hatte, entstanden war; die Beine um den Stuhl geschlungen. Neben ihm die sechs ineinandergeschobenen Beisetztischen und über ihm ein Bild von den Ostseedünen bei Graal. In Graal hatte sich meine Eltern kennengelernt. ("Immerlos wollte er mich küssen, und ich dacht' ich krieg' davon ein Kind. War ja man ein Aap.")

Ob ich Relli gemacht hätte?

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt

https://www.youtube.com/watch?v=bVW-Te3wRRU

Gestern seien die Gartenschau-Marken herausgekommen. Dunkelgrün und purpur. Ich würde wohl keine mehr abkriegen. Der Block von München-Riem koste heute schon 15 Mark und den hätte ich auch nicht.

Wie heiße der? wollte mein Vater wissen, ihm lief das Eigelb über die Finger.

"München-Riem? Was soll das bedeuten?

Dick Butter und dünn Johannisbeergelee aß ich am liebsten. Einstippen in Milchkaffee war erlaubt.

Wo Manfreds alter Herr gedient habe, wollte mein Vater wissen. Soso, bei der Artillerie. (Kavallerie wäre besser, Marine erheblich schlechter gewesen, denn: "Die haben uns damals verraten.") Bei der Artillerie müßten sie gut rechnen können. Er habe die Leute immer bewundert, die könnten ja gar nicht sehen, wohi sie schießen. - Die hatten ja auch andere Helme. Zu meiner Mutter sagte er was von St. Quentin "St. Quentin", das sprach er so aus, wie es geschrieben wird.

Meine Schwester aß saure Gurken und trank dazu lauwarmes Wasser. Sie steckte ihren Ratzefummel ins Fülleretui und riß den Reißverschluß zu.

"Nun tu ir die Liebe und melde dich schön", sagte meine Mutter und reichte ihr das blaue Oktavheft, in das sie zuvor gewisse notwendig gewordene Eintragungen gemacht hatte.

Ich mußte miene Kalktablettenehmen und einen Löffel Lebertran.

Mein Vater saß schon wieder über dem Kalenderblatt 1689, die Franzosen verwüsten Heidelbert.

"Hm, hm." Ich solle mein Schulbrot auch ja aufessen, es wegzuwerfen sei eine arge Unsitte. Robert sagte, arme Leute hungerten, und ich schmisse mein Schulbrot weg, das sei doch miteinander schier nicht zu verquicken.

Auf dem Schulweg - "Seifenheimchen" - kam man an einem sehr schmalen Haus vorbei, Anno 1903 stand über der Tür. Im Fenster lagen stets zwei Pekinesen, wenn sie uns sahen, kläfften sie wie rasend. Gleich daneben die ausgebrannte Syagoge, mit einem zerbrochenen Davidsstern am gußeisernen Tor.

"Da wohnen noch richtige Juden", sagte Manfred. Er habe im Adreßbuch nachgeschlagen. "Abraham Glücksmann Synagogendiener."

Im Patriotischen Weg habe man abgeschnittene Finger gefunden, das Werk Israels. Die mordeten Christen, zerstückelten sie und schmissen sie weg. Das wär für die eine gute Tat. In jeder Synagoge existiere ein verkrusteter Blutkeller. Dafür kämen sie in 'n Himmel. Und auf dem jüdischen Schlachthof würden die Tiere alle erstmal gemartert und dann langsam zu Tode gequält.

Auf der Höhe der Hilfsschule, dem "Margarinegymnasium" überholte uns Robert. Er ging dazu auf die andere Straßenseite hinüber. Schon von weitem hatte man ihn die Uhr aufziehen hören. Er trug eine winzige Aktentasche, eine Friseurtasche, wie er sie nannte. Wenn man darüber lachte, sagte er: "Am vielen Lachen erkannt man den Narren."

Toni Leo, Heilgymnastin. Bei Café Drude warf er seine Zigarette hinter den Telefonkasten. Da war es nicht mehr weit, da begegnete einem womöglich ein Lehrer.

Unser Gymnasium hieß jetzt "Schule bei den sieben Linden".

"Wie blödsinnig", sagte mein Vater.

Statt Sexta, Quinta, Quarta, mußte man eins, zwei, drei sagen. Das Tragen von Schulermützen war verboten.

In der Halle eine mit Tinte bekleckste Laokoon-Gruppe. Liegengebliebene Jacken wurden den beiden Knaben übergehängt.

"Heb das Papier da mal auf."

An der Wand eine aus bunten Nägeln zusammengehauene Hitlerjugendraute. Antreten Mittwoch 15 Uhr, Sportpalast.

"Nimm die Hand aus der Tasche, Jung."

Bei der Aufnahmeprüfung in die Oberschule hatte ichh "weil" mit "h" geschrieben. Auch die Porzellan-Püppchen, von denen im WHW-Diktat die Rede war, gelangen mir nicht recht. Aber selbstvertändlich wurde ich aufgenommen. Ich war doch der Sohn von "Körling". (17 Schock Eier kosten 51 RM; wieviel kosten dan 2 Mandeln?)

Was unsere Väter on Beruf sind. Bankdirektor, Landrat, Fliegeroberingenieur. "Schiffsmakler und Reeder", sagte ich. "Iss eins nicht genug?" wurde da über die Brulle gefragt. Abteilungsleiter beim Beamtenheimstättenerk, das war nicht sehr attraktiv.

Zwei Lehrer standen zur Auswahl: ein kleiner dicker mit Glatze und ein größerer finsterer mit einem Kopf wie ein Uhe. Der kleine Dicke, so stellte ich mir vor, der müsse sehr gemütlich sein. Bloß nicht zu dem Uhu kommen!

Der Dicke mit der Glatze zog mit den Seinen ab, ich kam natürlich zu "Hannes", dem Uhu. Typisch."

"Nach Johannesbeeren müßt ihr ihn mal fragen", rieten ältere Schüler.

Bei Hannes hatten wir dann alles, inklusive Religion. Ich war gleich fein heraus, weil ich den Gegensatz von "absolut" wußte. Güngstig wirkte sich auch aus, daß Hannes meinen Bruder nicht gehabt hatte, der war bei Kniese, dem kleinen dicken gewesen.

Immer wieder sprach Hannes über das Gotterlebenim Kriege. Im Unterstand, da habe es sich gezeigt. Am Revers seiner grünen Jägerjoppe trug er das Eiserne Kreuz in winzigeer Ausführung. Einmal fehlte es, hatte er es verloren? Ich meldete mich.

"Du bist kurz vor dem silbernen Löffel", meinte er da, und das war weiß Gott kein Lob.

Hannes war, wie mein Vater, Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer. Er bekomme bald den Doktor ehrenhalber, wurde gesagt, auf Zetteln habe er Tausende von Straßen- und Flurnamen katalogisiert. Der Borenweg, in dem er wohne, müsse eigentlich Boarenweg heißen, und das habe mit Bären garnichts zu tun. "Boaren", das sei nur eine lustige Bezeichnung für alte Stadtwächter. Borenweg 6 wohne er, das sollten wir uns merken, wenn mal was wär.

Seestadt Rostock, 121.300 Einwohner, Industrie-, Handels- und Universitätsstadt, am linken Ufer der unteren schiffbaren Warnow, 15 m ü. M.

"Blutstraße", das komme von "blot"= bloß.

Diese Straße sei nicht gepflastert gewesen, deshalb "blot". Wir glaubten wohl, da sei das Blut vvon Geköpften geflossen. Die Marienkirche sei, so lernten wir, 10 Rechenkästchen breit und 12 Rechenkästchen hoch, das Querschiff nicht eingerechnet. Bei der Petrikirche verhalte es sich 4:16. Deren Turm habe einen Buckel: so! Und er machte uns den Buckel vor, als wolle er dem Winde trotzen.

Am leichtesten war das Rathaus zu zeichnen: zwischen den sieben Türmchen je zwei Kasten Abstand.

Die Stadtmauer werde renoviert, ob wir das schon gesehen hätten. Jeden Ziegel reinigten sie mit einem Sandstrahlgebläse. "Fabelhaft, wie der Hitler das macht."

Standartengotik! Sieghaft, jauchzend schnellen die Senkrechten empor...

Als Naturfreund ließ er uns das Skelett des Walfisches zeichnen, was wir nur mit Blaupapier schafften. Die Bucher waren für imer ruiniert. Walfische gehörten zur Gattung der Säuger, sie brächten ihre Jungen lebend zur Welt, einsam im weiten Ozean. "Sieh mal, wie der Schäfer hämisch grinst..."

Im übrigen: Wir Menschen würden es bald so weit bringen, daß diese Tiere ausstürben. Abgeschlachtet; brutal, rucksichtslos. Widerlich.

Die Störche würden auch immer weniger, und die Kolkraben.

Der Eichelhäher, wie der wohl auf Plattdeutsch heiße. Da seien wir wohl gespant, was? Eickelhäcker vielleicht? Nein, "Markwart", heiße der.

Wisente würden jetzt wieder ausgesetzt. Da ginge es aufwärts. Erfreulich sei, daß die frisch ausgesetzten Tiere bereits flüchtig würden. Das sei ein gutes Zeichen.

Aufsätze verfaßten wir über die Wiese im Juni. Während wir sie schieben, war Hannes mit einem Artikel über ein ähnliches Thema beschäftigt, oben, auf dem Katheder. Der erschien am Sonnabend im "Rostocker Anzeiger". Seine Schularbeiten seien das, sagte er. Er müsse auch Schularbeiten machen. Das seien seine Schularbeiten. Ungehalten war er, wenn man "schon fertig" war und ihn störte.

In den Rechenstunden hob er zuweilen unvermitteln beide Arme; wie ein Priester. Aufspringen: Kopfrechnen, eine Seite gegen die andere. Da konnte man sich mal so richtig ausbrüllen. Als letzter blieb meist Blomert stehn. Der Blomert sei ein Saboteur der Arbeit, hieß es. Der müsse sich mal das Buch vornehmen und lernen das. "Werd doch Friseur!"

An der Tafel erklärte Hannes, daß es nun nicht mehr "ist", sondern "gleich" heiße. Wir seien ja schon groß.

Dies zu verdeutlichen, zeichnete er eine Waage und schrieb in die linke Schale zwei Einsen und in die rechte eine Zwei. Sie wögen gleichviel; was ich nicht einsehen konnte. Wichtig war ihm das KGV, das kleinste gemeinsame Vielfache. Wenn wir das nicht verstünden, dann kapierten wir auch alles Folgende nicht, bis hin zum Integral.

Klaus Greif, mein Nebenmann, hatte in Ordnung und Sauberkeit eine Eins. Er schrieb schöne vollrunde Zahlen. In jedes Kästchen eine. Nie unterstrich er die Ergebnisse "mit der Hand" wie Blomert das tat. Sein Füller war mit einer Pipette zu füllen, die Feder raus- und reinschraubbar. Damit schrieb er seine schönen Zahlen.

Er lieh mir ein Buch mit Zigarettebildern: Ruhmesblätter Deutscher Geschichte. Siegreicher Bajonettangriff der Kompanie Epp bei Onganjira am 9. April 1904. (Kamelreiter, die Hutkrempe an einer Seite hoch.) Und: Auf der Verfolgung der Simon-Copper-Hottentotten in der Wüste Kalahari.

Wen es zur Pause läutete, suchte er sich ein Opfer. Das nahm er in den Schwitzkasten und zerrte es zentaurenähnlich über den Flur. Manfred fragte, ob ich gesehen hätte, wie der den Blomert in den Kurven rumschleudere. Gräßlich, was? Der läge ja bald in der Waagerechten.

Manfred hatte einen Haro-Füller mit neuartiger Glasfeder. Die Kleckse, die er damit machte, stippte er mit einer Ecke des Löschblatts auf.

Vor mir saßen Struck und Stuhr; es war für die Lehrer mühevoll, sie auseinanderzuhalten.

Hinter mir Dicker Krahl. Er trug eine Taschenuhr mit Nickelkette. An dieser Kette hingen winzige Messer und Sägen, sein Vater war nämlich Fleischereibedarfshändler. In einer Lakritz-Tüte brachte er ausgestochene Kalbsaugen mit, die sollte Hannes untersuchen. "Sehr schon, mein Junge, leg das da man hin..."

In der Pause glühte er mit einem Brennglas Schnürsenkel an. Bei Fohmann gäb es Hitler sitzend. Der könne den Arm bewegen: "Sieg Heil!" Er habe Hitler jetzt doppelt. Ich kriegte von meinen Eltern immer nur Musiker, die gab es jetzt "im neuen Schritt".

Die Primaner durften auf dem Rosengarten promenieren. Die Lehrer reckten sich. "Wie die Tiere", sagte Hannes, wenn die Schüler grölten. Keiner merkte, was er durch Schnüffeln und Schnubbernn andeutete: Die Linden blühten, es roch nach Honig.

Im Kreis der 7 Linden, von denen die Schule ihren Namen hatte, tagte der Schüllerruderklub. "Wer fährt heute über?" wurde gefragt - da streckten einige ihren Daumen vor. Das bedeutete: Ich fahre heute über. (Auf die andere Seite der Warnow.)

Mein Bruder war von seinen Jachtklubfreunden umgeben.

In der himmelblauen kleinen Limousine
fährt das Glück, ein kleiner blonder Passagier...

https://www.youtube.com/watch?v=dQIoWL3Sg8Y

Bubi mit den gekräuselten Haaren, Heini im weißen Roll-kragenpullover und der vornehme Michael.

"Tadellöser & Wolff".

Mal sehn, was im Delphi anläge, vielleicht träfe er Marion, könne sein, daß die hier mal aufkreuze.

"Zatzig!"

Dann könnten sie ja mal einen wegmachen. Er gehe in die Veranda, Bubi könne das Herrenzimmer und Heini die Diele nehmen. Und Robert...

"Stüerman, lät mi an Land", sagte der.

Mich nannte sie Robert II. Was ich für einen komischen Pickel auf dem Hals hätte. "Oder ist das dein Kopf?"

Auf dem Heimweg schnallten wir uns den Tornister vor den Bauch und spielten Lok. Wer kann am schnellsten "Toni Leo"sagen? "Toni Leo, Toni Leo, Toni Leo..." Klaus Greif zog mit Blomert ab, den hatte er wie immer im Schwitzkasten. Hü! - Dicker Krahl fuhr auf seinem Rade stehend, "mein Moppe", wie er es nannte. Struck und Stuhr nahmen die Straßenbahn, die wohnten am Sportpalast. Ich warf mein Schulbrot in den Garten von Juwelier Dieken und machte, daß ich wegkam: Das Margarine-Gymnasium würde auch gleicch Schluß haben, und die Schüler hatten kahlgeschorene Köpfe..

Manchmal pfiff mein Bruder mich zurück.

Bei mir biste scheen...

"Hier, du Schleef, nimm mal meine Tasche und sag, ich komm' gleich." Er nähme es mir gut, wenn ich's täte. "Laß man, der Kleine iss ganz in Ordnung."

"Malsoweit!"

Hände waschen, Haare kämmen", wurde gerufen, wenn man in die Wohnung trat. Und dabei mußte man sich beeilen, denn: "Wer nicht kommt zur rechten Zeit, dem geht seine Mahlzeit queit."

Bei Tisch mußte dann der Schulbericht abgegeben werden. "Ansage mir frisch" Birnen, Bohnen und Speck. Ob die Duwe mit meiner Schwester wieder einen Pakt habe schließen wollen, und wie oft mein Bruder drangekommen sei.

Die Birnen hielten die Hitze, man wußte nicht, wie man den Stengel entfernen sollte. "Gib mal her, mein Peterpump." Ob er denn nun drangekommen sei oder nicht!?

Die harten Teile des Specks blieben einem zwischen den Zähnen stecken, das beengte sie.

Dr. Otterstedt habe nach der inneren Wahrheit gefragt, sagte mein Bruder.

Nach der inneren Wahrheit?

Ja, nach der inneren Wahrheit.

Der war im Krieg schwer verwundet worden, Zweihundertvierzehner, hatte oft starke Schmerzen.

"Aber tadellose Anzüge", sagte mein Bruder.

"Ja, gut dem Dinge. Klare Sache und damit hopp!"

Dr. Wolff sähe ja immer verboten aus, der kaufe bestimmt im Ausverkauf, die Taschen so ausgebeult und die Knie. "Faulmannsdörfter & Jennsen."

Der trage ja sogar Knikerbocker in der Schuhe, "wie isses bloß möglich. Daß da die Frau nicht drauf achtet." Total verbumfeit.

Dann müsse er sich auch nicht wundern, wenn er keine Disziplin halten kann.

Ob du's kannst - glaub's schon,
ob du's darfst - frakt sick.

Was für ein blöder Spruch.

"jija- jija."

Aus der Zeit der Wirtschaftskrise hatte sich eine "Fliegensuppe" erhalten, die gab es jede Woche. Wassergrieß mit einer Handvoll Rosinen. "Sauer eingekochter Greis." Meine Mutter schöpfte sie aus einer Terrine und gab acht, daß mien Vater ("typisch!") nicht die Zitronenschale bekam.

Wieviel der München-Riem denn nun wirklich koste, wollte er wissen. Ich solle mich mal erkundigen.



Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 5. Kapitel














 
 
 





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