Tuesday 3 March 2015

KAPITEL 9

Vor den großen Ferien sagte mein Vater, er sei völlig iben, er müsse endlich mal raus.
Er auch, sagte mein Bruder, er müsse auch mal raus.
Am besten, man fahre in den Harz, sagte mein Vater, da könne man preiswert unterkommen, der Reichsverband deutscher Offiziere unterhalte dort eine Pension. - Das Selketal solle ja wundervoll sein, da gebe es sicher allerhandlei zu sehen.
Geld spiele keine Rolle.

Noch nie sei sie weggewesen, sagte meine Mutter, noch nihct ein einziges Mal. Immer nur an die See. Es sei zum Verzweifeln... Hertha zum Beispiel, die sei in England gewesen und Richard in Hongkong. Aber sie: immer nur and die See.
Wenn mal bedenke, daß sie als Hamburgerin noch keinen Fuß auf den Boden Helgolands gesetzt habe, nicht einen einzigen!
Wie sei es bloß möglich!

Mein Vater suchte die Kartentasche raus, die von 14/18 und sein Fernglas. Außerdem ließ er sich einen Hornknefer machen, durch den kuckte er recht von oben herab. Der würde seiner Haut zuträglich sein.
Meine Mutter bekam eine Wandertasche und Schuhe von Salamander.
Und Ulla durfte ihre Zöpfe abschneiden lassen, ein langgehegter Wunsch. Die urden in Seidenpapier gewickelt, wenn später mal das Haar ausgeht.
Ob es im Harz Edelweiß gibt und ob man da kraxeln kann, wollte sie wissen. Sie wolle mal so richtig kraxeln.
Der Zug war voll. "Das kann ja heiter werden", sagte mein Vater, "wir kriegen bestimmt keinen Platz."
In der dritten Klase standen die Leute und in der zweiten war auch nichts mehr frei. Dann müsse man eben in den sauren Apfel beißen und in die erste umsteigen. Wenn das man keine Scherereien gebe! Dürfe man das? Fluchend wurden die Koffer durch den Gang bugsiert. Der große, blaue, aasig schwer.
"Karl, du versündigst dich ja".

In der 1. Klasse lag ein dicker Mann auf den Polstern, der las einen englischen Kriminalroman. "The Pools of Silence". Zu dem gingen wir rein. Lässig nahm er die Beine runter.
"I gitt", flüsterte meine Mutter, "wie so'n dicker jüdischer Spion..."

"Faß nicht Aschebechen an, komm, wir waschen uns gleich mal die Hände." Tante Silbi, wenn die losfahre, nach Schreiberhau, denn nehme sie einen Tag vorher Abführtabletten und anschließend was zum Stopfen, um nur ja nichts aufs Eisenbahnklo zu müssen.

"Watt, Urlaub wistu hebben?" habe der Großvater gesagt, "ick war' verrückt. Ick hew noch nie Urlaub hatt..." Und dabei fahre er doch jedes Jahr nach Oeynhausen.

Wie schnell wir wohl fuhren?
"Immer nur an die See", sagte meine Mutter. Und das Schönste, sie könne heut noch nicht schwimmen. Sie stoße immer mit einem Bein so ab.
Aber die Hochzeitsreise, da sei man doch nach Tegernsee gefahren?
Ja, die Hochzeitsreite, 1920, aber das sei ja auch ein ziemlicher Reinfall gewesen. "Warum schläfst du nicht?" habe ihr holder Gatte gesagt.
"Ach Gott, ich kann nicht..."

"Du mußt die Augen zumachen, mit offnen Augen kann ich auch nicht schlafen."
Und dann habe er weiter geschnarcht. Einen gesünderen Menschen als Vati gäb es ja überhaupt nicht. "Nie krank, schläft wie'n Toter."
(Kuck mal, wie er jetzt die Ohren anlegt... sieht er nicht finienisch aus?)
"Der Kapplan ist a Depp", habe an der Abteiltür gestanden, darüber hätten sie sich noch so amüsiert...
Bayerisch. Das sei'n komisches Volk. Daß das nun auch Deutsche sind...

Meine Schwester ging eben mal durch den Zug.
"Aber faß nicht die Türen an! Jedes Jahr fallen da welche raus."

Nein, die Hochzeitsreise sei ein ziemlicher Reinfall gewesen. In München zum Beispiel, anstatt nun mal aususteigen und sich alles anzusehen... und grade an dem Tage sei ein Blumenumzug gewesen, der nur alle zehn Jahre stattfindet. "Wie isses nun zu fassen." UUnd so gerne hätte sie sich mal die Gemälde angesehen und all das. Wann komme man da mal wieder hin!

Mein Bruder stand auf dem Gang und sah, koste es, was es wolle, aus dem Fenster. Die Berge, wann kommen sie, die Berge?
Seine Tolle flatterte wie eine Fahne, mal nach hinten, mal nach vorn.
"Lehn dich nicht so weit raus!"
"Kinder!" rief meine Mutter unversehens, "Kinder, o seht mal, da sind sie!"
"O du Donnerwetterr!"Robert hatte auf der falschen Seite gestanden.
"Laß man", sagte meine Mutter, "wenn wir da sind, dann siehst du sie die in aller Ruhe an. Die sind bestimmt um die Pension drum rum."

Der jüdische Spion rührte sich nicht, der las schwer atmend in seinem Roman. Den interessierten die Berge nicht.

In Sophienbad troff ein Wasserfall den Fels herunter.
Gut dem Dinge!
Aber es war niemand zum Empfang erschienen.
Links und rechts Dienstmänner, die den wenigen Gästen anderer Pensionen schwarze, mit Messing beschlagene Kofferr aus der Hand nahmen und auf Karren luden.
"Und wir, wir müssen sehn, wie wir fertig werden. Das ist doch unerhört!"
Das war mal wieder typisch.
Hatte man sich nicht korrekt angemeldet?
War der Zug zu früh eingetroffen?
In der Pension wimmle es vermutlich von Generälen. Und Vater war nur Leutnant der Reserve, wenn auch Tr¨ger beider Eisernen Kreuze, des Mecklenburgischen Verdienstkreuzes, des Hamburgischen Hanseatenkreuzes und so weiter.

Und morgen werde es bestimmt regnen.
Das ließe sich dann auch nicht ändern.

Die Pension, das "Heim", wie mein Vater sagte, war in der hier üblichen Bauweise holzverschalt.
Ein Jägerzaun schloß den großen, völlig verwilderten Garten ein.

Mein Bruder erkletterte gleich einen Hang.
Aber da gab es nichts zu sehen, da standen überall Bäume.
Doch halt! Ein alter Schacht?
Pfui Spinne, da hatte einer hineingeschissen.

"Ihr sollt mal sehn", sagte meine Mutter, "die richtigen Stellen entdecken wir erst noch. Das wird noch wunderbar." Am Anfang sei das immer so, da mache man viele Wege umsonst. Aber dann werde es gut. "Wir erkundigen uns, und dann gehn wir nur dahin, wo es schön ist"

Ein mit Restbeständen möbliertes Schlafzimmer bezogen meine Eltern, ein zweites, ebenfalls von äußersten Öonomie zeugendes Doppelzimmer meine Geschwister. Ich hatte eine Couch zu Füßen meiner Eltern.
"Sosst ma sehn", sagte meine Mutter, "da schläft es sich gut. Diese Couchen sind oft ganz konfortabel."

Alles weiß gestrichen, Schleiflack.Vor dem Fenster, braun und hoch, die Rückfront der Pension "Waldfrieden". Mein Vater stellte sein Rasierzeug auf den Waschtisch, Kaiser Borax zum Weichmachen des Wassers und Sparta-Creme.
Das würde seiner Haut guttun.
Er knipste sämtliche Lampen an und ließ die Wasserhähne laufen. "Ring-ring, beide Maschinen volle Kraft voraus!" ("Denen werden wir's zeigen.")

"Ich geh' schon mal eben los", sagte meine Schwester.
"Ja, aber sieh dich vor."

Gegessen urde an der Table d'hôte.Wir hatten einen eigenen Tisch in einer Nische des dunklen Speisesaals. An der langen Tafel saßen ältliche Menschen und ganz oben die Leiterin des Heims, Frau von Schmidt, der Mann bei Langemarck gefallen - blutjung, wie gesagt wurde. - Sie war es, die uns nicht gebührend empfangen hatte, obwohl mein Vater doch mit ihrem Mann Schulter an Schulter gegen die Franzosen gekämpft hatte.
"Entpörend. Wie isses nun zu fassen."

Zwei alte Damen, mit Deckchen auf dem Kopf und Stehkragen, ganz im Schwarz, wurden mit "Exzellenz" angeredet."Die Exzellencen."
Sie trugen schlappende Schuhe.

Ferner fiel ein Oberst auf, ein Mann von Fünfzig, mit breiten Säbelhieben auf der steil aufstrebenden Glatze. ("Perikles mit dem Helm.") Es lag viel Kriegserfahrung im Zwinkern seiner Augen. So sagteer nicht "Arras", wie mein Vater, sondern stets "Arra".
Mein Vater hilt ihm die Tür auf: "Belieben der Herr Oberst?"
"Danke, Herr Kamerad."

Fischauflauf kannten wir nicht. "Schmeckt aber gar nicht schlecht." Und warmen Schokoladenpudding. "Hu, wie ist der wehrsam."
Mein Vater füllte sich nach. "Alles inklusive", ob wir den Film kennten? Mit Pat und Patachon? Nachher müssen sie alles bezahlen und haben keinen Pfennig in der Tasche. "Gott, wie haben wir gelacht."
Mein Vater war der gesündeste Mensch, den man sich denken konnte, der vertrug ja Nägel. "Wie isser bloß gesund", sagte meine Mutter, "nicht tot zu kriegen, ganz entsetzlich."

Butter war in kleinen Formen zu Kleeblatt, Rose und Fisch gedrückt. Sie nachzukommen stieß auf Schwierigkeiten. Da wurde dann von Volkswirtschaft geredet. Knappmannsdörfer & Jennsen. Und der Wurstteller ging nur einma rum. "Junge, benimm dich."
Man schneide das Brot mit dem Messer und winkle die Ellenbogen an.
"Schneiden! Nicht drücken."

An einem zweiten Extra-Tisch, von Sonne beschienen, ein Leutnant mit seiner Frau und zwei Töchtern. Er ruhig, seine Frau schweigsam, die Töchter still. "Fein", sagte meine Mutter, "mit denen kannst du gewiß herrlich spielen."

Der Leutnant war aktiv und kam aus Königsberg. Rote Litzen, also Artillerie. (Kavallerie wäre besser, Marine erheblich schlechter gewesen.)
"Kuck da nicht so rüber."
Statt eines Ordens trug er das Reiterabzeichen in Silber.
Mein Vater knickte den Oberkörper ein, zur Begrüßung, was dieser entsprechend erwiderte.

Nach dem Essen standen sie, Zigarre beschneidend, am Fenster. "Sie sind aus Königsberg?" fragte mein Vater.
Ob er dort einen Obsthändler kennen namens Kempowski, "ka-e-em,pe-o-we,ess-ka-i? "Arthur Kempowski. Obst en gros. Das sei nämlich sein Vetter, direkt im Zentrum.
Nein?
"Nein", sagte der Leutnant rund heraus und spuckte Tabak weg, "nicht daß ich wüßte."

Ich lief mit den Mädchen in den Garten.
"Süß die Kleidchen", sagte Frau von Schmidt.
Wir hopsten über Quadrate, die wir in den Sand gezeichnet hatten, und versteckten uns, wobei abgemacht war, daß man nicht so genau hinkuckte, denn die beiden durften ihr Zeug nicht beschmutzen.
"Jetzt kommt mal ein Räuber und überfallt uns", sagte ich. "Das, glaub' ich, dürfen wir nicht", antworteten die Mädchen.

Meine Mutter, auf der Veranda, über ihrer Ocki-Arbeit, meinte: "Das ist recht, freunde dich ein bißchen an." Wir sollten mal Blumenraten spielen, das wär fein. "Jeder denkt sich eine Blume aus, und wenn ihr euch trefft, ruft ihr: Veilchen! oder was nu grade. Das ist hübsch." Sie habe als Kind immer Hexe über'n Graben gespielt, das sei auch ein nettes Spiel. Sie wisse bloß nicht mehr, wie es geht.
"Oder Abo-Bibo", sagte mein Bruder, "spielt doch mal Abo-Bibo. Das ist auch in Ordnung. Da schmeißt man'n Ball hin und rennt weg. Abo-Bibo-Cettellecker-Dodenkopp."

Meinen Hamburger Anzug war ich los. Für die Reise hatte ich zwei blaue Polohemden und einen ärmellosen Pullover bekomen. Dazu eine feine Hose aus Flanell.
"Du sahst ja wirklich verheerend aus", sagte Robert, so speckig und verpupt. Widerlich, ekelerregentd. Viehisch." Er holte den echten Schildpattspiegel meiner Mutter und hielt ihn mir vor.
Ich sollte mal selbst sagen, ob es so nicht besser wär?

Morgens wehten frisch gewaschene Haarschleifen über dem Balkongeländer.
Lili, ein Jahr älter als ich, brachte mir das Fingerspiel bei: alle 10 Fingerspitzen auf einmal gegen die des andern tippen.
Sie hatte klare blaue Augen und lange, etwas dünne Zöpfe; die warf sie hinter sich.
Elke, die kleinere, sah genauso aus wie ihre Schwester, und beide trugen blaue Kleider mit kleinen bunten Blumen drauf.

In der morschen Liegehalle, in der sich nie ein Erwachser aufhielt, bewirteten sie mich mit zerquetschten Knakkern in Schüsseln aus Baumrinde. Das sei Braten.
Elke hüpfte, wogegen Lili ernster zuwerke ging.
Jasmin rundherum, Dachpape, modriges Holz.

Zuweilen war ich "krank", dann mußte ich liegen und wurde mit einem Zweig "gemessen".
Ob sie nicht mal Wiederbelebungsversuche machen wollten, fragte ich, aber darauf gingen sie nicht ein.

Die Bahnfahrt von Königsberg in den Harz habe einen ganzen Tag gedauert, erzählten sie. "Denk mal an!"
Im polnischen Korridor sei der Zug abgeschlossen worden, Vorhänge zu. Da habe man nicht mal aus dem Fenster kucken dürfen, und dabei sei das doch urdeutsches Land. "Auf us dem Fenstergucken steht Todesstrafe!"

"Was macht meine Haut?" fragte mein Vater beim Abendbrot." ... kennt den Arthur nicht, dieser Idiot. Ein richtiges Archgesicht."

"Und Elke", sagte meine Mutter, "wie kann man sein Kind bloß Elke nennen. Elke... (Sie schüttelte den Kopf.)
"Die Obsthandlung ist direkt am Domplatz. Wenn er aus Könisberg ist, muß er sie kennen."
"Und die Frau, nimm's mir nicht übel, richtig ordinär. Wie die die Ellenbogen aufstützt, und diese Locken!" Vermutlich aus ganz einfachen Verhältnissen. Halbgebildet, respektive demi monde.








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